Im Gastblog schreibt Pauline Bellmann anhand von ausgewählten Beispielen über die Rolle der Poesie in unserer heutigen Welt.

"Lyrik ist tot." Mit diesem Satz, der mich noch heute viel beschäftigt, wies mich vor einigen Jahren eine Buchhändlerin ab, die ich nach Gedichtbänden in ihrem Sortiment fragte. Diese düstere Einschätzung mag verschiedene Ursachen haben, ein Beispiel ist der zunehmende Online-Handel. Besonders in kleinen, unabhängigen Buchhandlungen ist diese Problematik zunehmend spürbar. Zwischen "Trendromanen" und scheinbar sinkenden Leserzahlen kann Poesie nicht selten untergehen.

Person schreibt mit Bleistift auf einem Notizblock
Mit dem Stift auf Papier – nur eine von vielen Formen, in der Lyrik ihren Platz findet.
Foto: Getty Images/iStockphoto

Es ist jedoch nicht zu vergessen, dass Lyrik nicht nur auf Papier stattfindet. Oft reicht sie als Gratwanderer der Literaturgattungen auch in visuelle und performative Bereiche hinein. So finden wir Lyrik heute überall in den unterschiedlichsten Formen. Wo begegnet uns Lyrik heute? Wieso ist sie so wichtig in unserer heutigen Zeit? Und was können wir erreichen, wenn wir selbst schreiben? 

Die Poesie unserer Zeit

Lyrik finden wir überall. Das eindringlichste Beispiel ist hier die Musik. Die meisten von uns hören regelmäßig in irgendeiner Form Musik mit Texten. Je nach Song mögen diese Texte mehr oder weniger durchdacht sein, doch die meisten folgen Schemata, die Gedichten nicht unähnlich sind.

In 2016 gewann Singer-Songwriter und Musiklegende Bob Dylan für seine Texte den Literaturnobelpreis. Diese Entscheidung löste in der Öffentlichkeit einige Kritik aus. Jedoch, so das Argument von Laudator Horace Engdahl, nimmt die musikalische Unterlegung seinen Texten nicht den revolutionären Charakter. Engdahl argumentiert, Dylan habe der Lyrik ihren Stil zurückgegeben.

Doch auch außerhalb der Musikbranche hat Poesie nicht ihre Bedeutung verloren. Im schnelllebigen Zeitalter kurzformatiger Inhalte finden auch knappe poetische Texte, Gedichte und Flash Fiction seit Jahren großen Anklang. Unter dem Begriff Instapoesie erlebte die Lyrik sozusagen eine Renaissance, besonders unter jüngeren Leserinnen und Lesern.

Die kurzen, oft sehr persönlichen Texte nehmen die verschiedensten Formate an. Nicht selten sind die Gedichte charakterisiert durch freie Rhythmen und passende Illustrationen. Eine der wohl beliebtesten Instagram-Poetinnen ist Rupi Kaur. Bekannt durch ihre Zweizeiler und eindringlichen Illustrationen hat sich die indisch-kanadische Dichterin zu weltweitem Erfolg geschrieben.

Neben den zu erwartenden Schwankungen im Zuspruch dieser sehr kurzen, formlosen Texte findet sich unter der Leserschaft auch Diskussionsbedarf zu übergreifenden Themen, wie die zu vereinfachte und verallgemeinerte Darstellung von Frauen in einer bestimmten Kultur. Trotzdem spricht Kaur mit ihren Gedichten vor allem junge Mädchen an, die sich in den Worten wiederfinden. So hat Kaur nicht nur seit ihrem Debüt vier Bücher veröffentlicht, sondern tourt auch mit ihren Lesungen durch die ganze Welt.

Slam-Poetry

Neben der visuellen Darstellung von Texten hat auch im jetzigen Zeitalter besonders das Vortragen von Gedichten an Popularität hinzugewonnen. "Slam-Poetry" sind Gedichte, oft vorgetragen im Rahmen von Wettbewerben, in denen sich Autoren und Autorinnen vorzugsweise mit unterschiedlichen Thematiken in lyrischer Form auseinandersetzen.

Diese Art Vortragsform von Lyrik ist keine Neuheit, hat aber in den letzten Jahrzehnten an Beliebtheit gewonnen. Die wachsenden Verbreitungsmöglichkeiten, die zum Beispiel mit dem Internet einhergehen, öffnen auch jüngeren Poeten oft die Möglichkeit, sich und ihre Kunst zu präsentieren.

Im politischen Kontext

In den USA spielte zeitgenössische Poesie in den letzten Jahren auch auf bedeutenden Veranstaltungen eine begleitende Rolle. In 2021 trug die Poetin Amanda Gorman bei Präsident Bidens Amtseinführung ihr Werk "The Hill We Climb", übersetzt "Der Hügel, den wir erklimmen", vor. Sie erhielt großen Zuspruch als jüngste Dichterin bei einer Präsidenten-Amtseinführung, auch "Inaugural Poet" genannt, und reiht sich damit neben Größen wie Robert Frost und Maya Angelou ein.

Gormans Buch "The Hill We Climb", nach dem gleichnamigen Gedicht, wurde kürzlich in einer Schule in Florida auf die schwarze Liste gesetzt und ist nun nur noch für Kinder ab der Mittelstufe zugänglich. Verantwortliche beanstanden, dass das Werk den Zweck habe, Schüler zu verwirren und mit indirekter Hassrede zu indoktrinieren. Gorman reagierte mit tiefem Bedauern darauf, dass hier jungen Menschen die Möglichkeit der freien Entscheidung  genommen werde.

Worte aus der Ukraine

Die Bedeutung für Poesie in unserer Gesellschaft wird besonders in Momenten des Konflikts deutlich. Ein Beispiel, das in den letzten Jahren besonders seit 2022 an Raum in den Medien gewann, ist die ukrainische Poesie. Bei den Grammy Awards in 2022 trat die ukrainische Dichterin Ljuba Jakymtschuk gemeinsam mit John Legend auf die Bühne, um ihr Werk "Prayer" in englischer Übersetzung zu performen. Ihr Buch "Abrykosy Donbasu" wurde als "Apricots of Donbas" aus dem Ukrainischen ins Englische übersetzt.

Wie wichtig diese Übersetzungen der Lyrik sind, zeigt die amerikanisch-ukrainische Akademikerin, Poetin und Übersetzerin Oksana Maksymchuk, die an der Übersetzung von Jakymtschuks Werk maßgeblich beteiligt war. In Lwiw als Tochter eines Schauspielers aufgewachsen, hat sie ihr Leben der Lyrik und ihrer Übersetzung gewidmet. 2017 erschien ihr neuestes Projekt: eine Sammlung ukrainischer Kriegsgedichte, entstanden als Antwort auf die gegen das Völkerrecht verstoßenden Annexionen im Donbass und auf der Krim. "Words for War", Worte für Krieg, heißt die Anthologie, in der Maksymchuk und ihr Ehemann betroffene Dichter und Dichterinnen mit Übersetzern und Übersetzerinnen zusammenbringen, um ihre Worte und Erfahrungen für das englischsprachige Publikum verständlich zu machen.

Diese Arbeit zeigt unter anderem, was Sprache in der Form der Lyrik als Mittel zur Verarbeitung traumatischer Lebensumstände leisten kann. Eine der Strategien, die sich im sprachlichen Gebrauch in den Gedichten bemerkbar machen, benennt Maksymchuk im Interview mit TEDx Vienna mit der Infantilisierung der Sprache: "Die Dichter, die diese Strategie nutzen, schreiben oft, als würden sie das Sprechen erneut erlernen in dieser veränderten Welt." In einigen Gedichten beobachtet Maksymchuk auch eine Art Aphasie, ein Phänomen, das unter anderem bei Traumapatienten und -patientinnen auftreten kann. Diese Werke imitieren eine Art Sprachverlust, verwechseln Worte, umschreiben statt benennen. Hier werden durch den Gebrauch der Sprache und Form Unsicherheit, Hilflosigkeit und Verlust für den Leser oder die Leserin in einem geringen, aber im besten Fall effektiven Maße verständlich gemacht.

Ljuba Jakymtschuk nutzt ihre Sprache beispielsweise für Dekonstruktion. Im Abbau und Aufbruch ihrer Sprachverwendung spiegelt sich die Zerstörung ihrer Heimat wider. In ihrem Werk "Decomposition" verknüpft sie Sprache, Ort und Identität und zeigt den Zusammenbruch dieser Realitäten und Konstrukte. Maksymchuk betont, dass Gedichte nicht einfach einen Sachverhalt beschreiben. Vielmehr bildet das Sprachspiel ein Erlebnis, ein Gefühl, etwas tiefgehend Menschliches ab. Gerade die Transplantation dieser Grundlage von Poesie macht ihre Übersetzung zu einer schwierigen Aufgabe. Dennoch können diese Gedichte, ob im Original oder in der Übersetzung, versuchen, den Lesern und Leserinnen diese Erfahrungen näherzubringen.

Was uns das Schreiben bringen kann

So wie die Leserschaft in diesen Texten Raum für Reflexion und Erweiterung findet, so kann auch das Schreiben selbst einen kathartischen Effekt auf die Autoren und Autorinnen haben. Die Vielfältigkeit der Lyrik lässt sie zum Werkzeug der Poeten und Poetinnen werden, so bei den genannten Beispielen unter anderem zur Benennung und Darstellungen von Traumata. Ein Beispiel der besonderen Kraft der Poesie erzählt die Geschichte von Keenan Scott II. Scott ist Poet, Drehbuchautor und hat an verschiedenen Theatern in New York, Washington, D.C., und Maryland gearbeitet.

In der Schule hatte Scott Probleme mit Legasthenie, er bezeichnete seinen Englischlehrer als seinen Erzfeind. Doch ebendieser war es, der Scott seine besondere Stärke offenbarte. Als Scott in der achten Klasse eine Schulaufgabe abgab, ein selbstverfasstes Gedicht, bemerkte er den Effekt der kulturellen Einflüsse wie Hip-Hop und Rap in seinem Umfeld. Tupac sang: "Picture perfect, I paint a perfect picture." So, sagt Scott, habe er von Rap und Hip-Hop gelernt, wie kraftvoll Alliteration wirken kann, und imitierte diese, ohne genau zu wissen, was er tat. Danach ging es für ihn bergauf. Er fand seinen Zugang zur Sprache trotz und mit seiner Legasthenie, fand sich in der Welt der Slam-Poetry wieder und studierte später Theaterkunst. Neben seinen persönlichen Erfahrungen und seiner Geschichte arbeitet er auch weitergehende gesellschaftliche Themen auf wie Rassismus in den USA.

Doch Scott ist kein Einzelfall. 2007 gewann Philip Schultz den Pulitzer-Preis für Poesie. Der Autor, der in New York auch renommierte Schreibkurse und Workshops leitet, hatte sehr mit seiner Lernschwäche und den damit zusammenhängenden Problemen mit Mitschülern und Lehrern zu kämpfen. Doch den Wunsch, Autor zu werden, gab er nie auf. Heute sieht er die Vorteile in seinem Andersdenken und nutzt sie für seine Werke. Trotzdem passt er auch die Umstände in der Arbeit als Autor an seine eigenen Bedürfnisse an.

Nun bleibt nur noch eine Frage: Ist Lyrik wirklich tot? Meine Antwort ist hier eindeutig. Auch wenn Poesie besonders im Printformat oft eher als Nischenprodukt gilt, ist die Lyrik wohlauf und wandelt noch unter uns. Und sie hat nichts an Bedeutung für uns und unsere Mitmenschen verloren. (Pauline Bellmann, 1.6.2023)