Jeremy Strong spielt in der HBO-Serie
Jeremy Strong spielt in der HBO-Serie "Succession" den sensiblen Familiensohn Ken Roy.
Foto: HBO, AP

Jeremy Strong verschrieb sich in der Darstellung komplett seiner Figur. In Zeiten maximaler Selbstdarstellung in sozialen Medien sei die Wiederaufnahme dieser Schauspieltechnik kein Zufall, sagt die Theaterwissenschafterin Anke Charton.

Er kann himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt – und beides nimmt man ihm ab. Jeremy Strong spielt in der Serie "Succession" den leidgeprüften Kendall Roy, Sohn des mächtigen Medienmoguls Logan Roy und Mitglied einer Familie, die es im Fach des toxischen Umgangs miteinander zur Meisterschaft gebracht hat. Ken ist unter den hartgesottenen Mitgliedern dieser schändlichen Familie der Sensible. Strong spielt in seiner Interpretation die gesamte emotionale Palette eines Verletzten durch, der sich nach Liebe sehnt, daran immer wieder zerbricht und selbst zum Täter wird. Verzweiflung, Manie, Wahnsinn, Reue – es ist eine tolle Schau.

Den Bezug zu seiner Rolle hat sich Strong über eine schauspielerische Methode erarbeitet, die seit längerem aus der Mode gekommen ist. Strong praktiziert das sogenannte "Method-Acting".

Was Method-Acting ist

Unter Method-Acting versteht man "den Versuch der maximalen, äußerlichen und innerlichen Angleichung an ein wahrgenommenes Rollenprofil, das nach Möglichkeit Grenzen einreißt", erklärt die Theaterwissenschafterin Anke Charton im STANDARD-Gespräch. "Das bedeutet natürlich zugleich, dass man davon ausgeht, dass es Grenzen gibt."

Es ist ein Ansatz, bei dem die Darstellerinnen und Darsteller sich mit Haut und Haaren ihrer Rolle verschreiben und bereit sind, bis zum Äußersten zu gehen. Berühmte Vertreterinnen und Vertreter in der Filmgeschichte sind etwa Robert De Niro, Dustin Hoffman, Christian Bale, Nicolas Cage, Leonardo DiCaprio, Shia LaBeouf, Charlize Theron und Daniel Day-Lewis.

Extreme Beispiele

Zu den bekanntesten Übungen zählen sichtbare Techniken, etwa Gewichtzu- und -abnahme, oder weniger sichtbare wie Schlafentzug oder das Kopieren bestimmter Bewegungsmuster. Shia LaBeouf ließ sich in Vorbereitung auf eine Rolle einen Zahn ziehen, Nicolas Cage ließ sich für seine Rolle als Dracula die Zähne abschleifen. Robert De Niro wurde dicker und dünner und fuhr für "Taxi Driver" selbst Taxi. Jeremy Strong kapselte sich während des Drehs zu "Succession" von seinen Kolleginnen und Kollegen ab, erschien beschwipst zur Arbeit und sprang in einer Szene mit solchem Furor von der Bühne, dass er sich das Schienbein verletzte. "Ich denke, man muss die Tortur durchmachen, die die Figur durchmachen muss", sagte der Schauspieler. Er gab auch zu, dass er sich manchmal weigerte zu proben, weil er wollte, "dass sich jede Szene so anfühlt, als ob ich einem Bären im Wald begegnete".

Für ihre Leiden erhalten die Darsteller Film- und Fernsehpreise sowie jede Menge Medienberichterstattung. Ein weiteres Kennzeichen ist daher für Charton "die ganze Maschinerie von Anekdoten, die sich um die Technik ranken und die anscheinend auch eine Faszination abbilden". Wir bewundern Menschen, die Grenzen überschreiten. Das Muster sei jenem des Reality-TV ähnlich.

Woher Method-Acting kommt

"The Method" oder auch das "Stanislawski-System" bezeichnet eine Schauspieltheorie, die vom russischen Regisseur und Kritiker Konstantin S. Stanislawski erfunden und von Lee Strasberg weiterentwickelt wurde. Die Technik soll Schauspielerinnen und Akteuren zu maximaler Authentizität in ihrer jeweiligen Rolle verhelfen. Als "Erscheinung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts" definiert Charton die Technik, als "Ausdruck des Postnarzissmus und der Postmoderne".

Warum es problematisch ist

Nach einer Blütezeit Ende des vorigen Jahrhunderts ist der Ansatz zwischenzeitlich aus der Mode gekommen, zumal eigenwilliges Verhalten am Set heutzutage weitaus weniger geduldet wird als früher. Für die Theaterwissenschafterin Charton ist das nachvollziehbar. Sie findet Method-Acting "übertrieben". Es führe zudem "nicht unbedingt zu besserem Schauspiel".

Strongs Methode gefiel seinem Co-Star Brian Cox nicht, einem altgedienten Schauspieler, der sein Instrument verfeinert hat, indem er acht Shows pro Woche für die Royal Shakespeare Company und das Royal National Theatre spielt. Cox bezeichnete Strongs Stil in einem Interview als "verdammt nervig" und machte seinem Unmut später gegenüber "Variety" Luft: "Es tut mir leid. Diese ganze Art von 'Ich denke, also fühle ich'. Mach einfach deinen Job."

Mit der Kritik ist er nicht allein: Anthony Hopkins bezeichnet Method-Acting als "Nervensäge", Mads Mikkelsen nannte es "Blödsinn", und Toni Collette tat es als "völlige Abzocke" ab. In einer oft wiederholten Anekdote war Laurence Olivier so verärgert über Dustin Hoffmans Entscheidung, die ganze Nacht aufzubleiben, um für eine Szene in "Marathon Man" erschöpft auszusehen, dass er säuerlich fragte: "Mein lieber Junge, warum versuchst du nicht einfach zu schauspielern?"

Zeitphänomen

Die Debatte ist keineswegs neu, sagt Theaterwissenschafterin Charton und erinnert an den Philosophen Denis Diderot, der 1769 vom Paradoxon des Schauspielens schreibt. Diderot unterscheidet sogenanntes "kaltes Spielen", bei dem die Schauspielerin ihre Figur technisch erarbeitet, und "warmes Spielen", bei dem der Schauspieler alles selbst fühlt, um maximal authentisch zu wirken. Das Paradoxon der Authentizität besteht nach Diderot genau darin: etwas zu spielen, das man eben genau nicht ist. Schauspiel verstehe sich in dieser Lesart als Akt des Reproduzierens, eines "Tun, als ob".

Während der Renaissance ging es darum, Schauspielen als Idealbild darzustellen, wobei es völlig klar war, dass jemand die Figur darstellt. Charton: "Denn das ist ja die Kunst dabei. Kunstfertigkeit sichtbar zu machen." Erst später kam die Idee auf, der Schauspieler oder die Schauspielerin müssten sein, was sie fühlen. Der Westen sei sehr auf diese Nachahmung in der Tradition von Aristoteles fixiert. Ein Schauspiel, "das sich als Verwandlung versteht und sich nicht auf reines Nachahmen beschränkt", sieht Charton heute "selten bis gar nicht mehr".

Schauspielen spiegle immer auch ein Weltbild, sei ein Kommentar zur Zeit, sagt Charton, weshalb die Vorstellung von Schauspielerei mehr dem Entwurf des "warmen" Spielens folge. "Wir sind einer Idee des Schauspielens verhaftet, in der Schauspielen als Nachahmen verstanden wird. Alles soll möglichst echt und authentisch sein."

Aktuelle Auseinandersetzung

Insofern ist Jeremy Strongs Method-Acting keine Überraschung. Der Zwang zur Authentizität entspricht dem gegenwärtigen Verständnis von Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung. In soziale Medien wird die Vorstellung von Echtheit mit Clicks und Followern belohnt. "Da geht es darum, wenn ich nicht echt bin, wird es als Fake abgewertet", sagt Charton. "Und gleichzeitig gibt es eine Riesenindustrie, die diese Echtheit herstellt. Diese Sehnsucht nach dem Echten wird vielleicht deshalb stärker, weil wir mit so vielen Fakes konfrontiert sind." Auffallend oft sind es übrigens Männer und kaum Frauen, die Method-Acting praktizieren.

Der Raum für Grenzüberschreitung ist heute allerdings enger geworden. Schlechtes Benehmen am Set wird nicht mehr in dem Ausmaß geduldet. Für Charton ist die Methode somit "okay, wenn es bei der Arbeit hilft. Bei mir hört es da auf, wenn ich mit meinen schlechten Manieren meine Kollegin bei der Arbeit behindere." (Doris Priesching, 31.5.2023)