Da lieg ich also auf dem roten Teppich und weine. Fühle mich leer. Meine Waden krampfen, mein Herz schlägt schnell. Das waren die Worte, die ich mir für den Einstieg dieses Textes zurechtgelegt habe, bei Kilometer 41,5 meines ersten Ultramarathons. Es geht steil bergab, mein Knie zwickt, die Sonne brennt auf meinen Kopf und meine Fußsohlen in den Laufschuhen. Ich habe fast kein Wasser mehr, dafür aber Tränen in den Augen und einen Kloß im Hals.

Die Sonne brennt, meine Fußsohlen auch

Knapp sechs Kilometer liegen noch vor mir. Ich kenne die Strecke auswendig, schließlich sind wir hier, im Rahmen des Innsbruck-Trail-Run-Festivals (IATF), nur wenige Kilometer von meinem Zuhause unterwegs. Ich weiß also, dass noch einige Kilometer Asphalt vor mir liegen. Wie oft habe ich an das mit rotem Teppichstoff ausgelegte Ziel gedacht, im Laufe des heutigen Tages. Ich weiß, dass ich es bis ins Ziel schaffen werde, sehe mich dort aber schon dramatisch in mich zusammensacken.

Eine Läuferin in weißem Rock auf einem Feld.
Halbzeit. Meine Beine wundern sich: Ich bin noch nie so lange gelaufen.
Fabian Mühleder

Es kommt anders. Auf den finalen Metern ins Ziel säumen hunderte Menschen die Strecke und jubeln. Das Interesse ist groß, seit Monaten wird kräftig die Werbetrommel gerührt. Das IATF findet im Vorfeld der Weltmeisterschaft im Trailrun und Berglauf statt, die von 6. bis 10. Juni in Innsbruck und im Stubaital ausgetragen wird. Über 4.000 vorrangig Hobbyläufer und Amateurathletinnen loten auf Strecken zwischen 15 und 110 Kilometern ihre Grenzen aus.

Plötzlich federleicht im Zielsprint

Teils verlaufen die Rennen auf denselben Trails wie die Weltmeisterschaft ein paar Tage später. Für mich war auch das ein ausschlaggebender Punkt: Die gesamte Strecke meines Wettkampfs verläuft auf Abschnitten der WM-Strecke. Wenn ich unterwegs daran denke, bekomme ich Gänsehaut.

Eine zerklüftete Gebirgskette.
Die Kulisse ist atemberaubend. Im Schatten der Kalkkögel knuspern wir die ersten 800 Höhenmeter. Die finalen Meter stapfen wir durch Schnee.

Unter den Menschen, die den Zieleinlauf säumen, entdecke ich vertraute Gesichter: meine Schwester Claudi, die auf- und ab hüpft wie ein Flummi. Meine beste Freundin, Dani, die mich im Livetracking verfolgt und mir ¬immer wieder motivierende Nachrichten geschickt hat. Und mein Freund Simon, mit dem ich die Leidenschaft fürs Laufen teile. Plötzlich fühlen sich meine Beine federleicht an.

Der Startbereich eines Rennens im Morgenlicht.
7.30 Uhr. Im Zielbereich ist die Stimmung angespannt bis euphorisch. Mein Herz klopft.
Fabian Mühleder

Ich laufe Schulter an Schulter mit Pauline, einer Schweizerin, mit der ich – im wahrsten Sinn des Wortes! – die Höhen und Tiefen der finalen 20 Kilometer geteilt habe. Wir kannten uns nicht, haben uns aber gegenseitig motiviert und angespornt. Nach acht Stunden, 14 Minuten und 26 Sekunden laufen wir durchs Ziel. Die schnellste Frau, Ekaterina Mitiaeva, brauchte nicht einmal sechs, der schnellste Mann, Sven Koch, den ich immer wieder in den heimischen Bergen beim Training treffe, schaffte es in unter fünf Stunden.

Solidarität unter den Genussläuferinnen

Um 7.30 fällt der Startschuss. Die kompetitive Elite ist rasch außer Sichtweite. Im Starterfeld in meinem Tempo herrscht anfangs Nervosität: Auf den steilen, schmalen Pfaden vom Hoadl zur Kemater Alm über den Grieskogel kann man kaum überholen. Doch je mehr Zeit vergeht, desto freundschaftlicher wird der Umgang. Vor allem unter den Frauen ist eine Art verbindender Teamgeist zu spüren. 100 Frauen und 307 Männer treten an. Sieben Frauen und 33 Männer brechen das Rennen ab.

Drei Läufer vor einer Bergkulisse
Bei Kilometer 20 lichtet sich das Starterfeld. Die Stimmung unter den Läuferinnen und Läufern in meinem Tempo ist gut, die Frauen feuern sich gegenseitig an.
Fabian Mühleder

In der auf E-Scootern und Rolltreppen durch den Alltag gleitenden Gesellschaft muss ich mich des Öfteren für meine Leidenschaft rechtfertigen. "Warum tust du dir das an?", fragen Menschen mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich kann lange darüber sprechen, warum ich das Laufen liebe. Es befreit, lenkt ab, durchblutet, inspiriert.

Im chemischen Glücksrausch

Meine Liebe lässt sich sogar wissenschaftlich belegen. Nämlich mit einem Phänomen, das den schönen Namen "Runner’s High" trägt. Dieser Glückszustand tritt meist nach einer halben Stunde ein, manchmal so stark, dass es mich kurz schüttelt und ich ein Kribbeln bis in die Fingerspitzen spüre. Lange machte die Wissenschaft Endorphine für diesen Zustand verantwortlich. Hamburger Forschende wiesen in einer 2021 publizierten Studie nach, dass der Körper beim Ausdauersport Cannabis-ähnliche Moleküle produziert.

Eine Läuferin im dichten Wald.
Knapp nach Kilometer 30. Auf den steilen Passagen geht auf diesen Distanzen selbst die Elite. Ich auch, natürlich. Hier schon gemächlicher.
Fabian Mühleder

Von denen zehre ich an jenem Samstag im Juni lange. Ich habe mir vorgenommen, nicht auf die Zeit zu schauen. Eigentlich habe ich für die Distanz zu wenige Kilometer in den Beinen. Mein längster Trainingslauf schlug mit gerade einmal 27 Kilometern zu Buche. Ich habe einen Blick auf meinen Puls, achte darauf, ihn nicht hochschießen zu lassen. Ich weiß: Nur wenn ich mich schon anfangs nicht verausgabe, komme ich ins Ziel.

Futtern für den Flow

Der Mensch ist das beste Ausdauertier auf dem Land. Die Entwicklung des Menschen zum Läufer war ein evolutionärer Prozess der Spezialisierung. Unsere Vorfahren jagten ihre Beute, bis sie zusammenbrach. Mein Belohnungszentrum springt an und versorgt mich mit einem chemischen Glückscocktail. Mein Körper denkt wohl, ich bin heute auf Jagd und klopft mir auf die Schultern. Ich fühle mich wohl auf diesen ersten 30 Kilometern. Jagen muss ich heute nicht, meine Energie habe ich in Form von – teils mit Koffein versetzten – Gels und Riegeln dabei. Seit Tagen esse ich vor allem Kohlenhydrate. Alle zehn Kilometer gibt es eine Versorgungsstation, jedes Mal ein Lichtblick.

Eine Läuferin mit Stöcken auf einem Grashang.
Eine richtige Ernährungsstrategie hilft enorm. Ich versuche alle 30 Minuten etwas zu essen. Kohlenhydrate habe ich in Form von Gels und Riegeln dabei.
Fabian Mühleder

Pickig, schwitzig und verkrampft

Immer wieder denke ich an diesen Artikel. Wie fühlt sich ein Ultramarathon an? Meine Antwort nach 30 Kilometern: pickig, von dem ausgelaufenen Gel. Brennend, die Fußsohlen. Leichte Übelkeit. Der Kampf beginnt. Ich schnüre meine Laufschuhe mit dem groben Profil ein bisschen weiter, es geht wieder aufwärts, die letzten 1.000 Höhenmeter stehen an.

Beine von Läuferinnen und Läufern vor einem Rennen.
Die Sportindustrie verdient ein goldenes Näschen am Trailrunning Trend.
Fabian Mühleder

In meine Ausrüstung habe ich hunderte Euro investiert: einen Rucksack, anschmiegsam wie eine zweite Haut. Stöcke, federleicht und faltbar, aus Carbon. Immer mehr Marken buhlen um jene, die die Berge laufend erklimmen. Die Industrie verbucht Wachstumszahlen im zweistelligen Prozentbereich.

Materialschlacht auf den Trails

Doch ab wann gilt man als Trailrunner? Die Industrie sagt: Trailrunning beginnt schon beim Verlassen des Asphalts. "Trailrunning ist ein Sport für alle", sagt mir ein Vertreter von Salomon. Das Laufen entlang der Isar in München? Ein "Urban Trail". Bis zu 200 Euro kosten Trailrunning-Schuhe der Marke, die von sich behauptet, eine der ersten auf dem Markt gewesen zu sein. Nur fünf bis zehn Prozent der Kundschaft betreiben den Sport auf Wettkampfniveau, schätzt der Vertreter: 2,4 Millionen Menschen weltweit. Eine "spitze Zielgruppe", die als "Inspiration der Masse" aber eine wichtige Rolle spielt. Die Verkaufszahlen sind in den letzten Jahren rasant gestiegen.

Eine Läuferin nach dem Ziel
Lange war ich überzeugt, dass ich im Ziel in Tränen ausbrechen werde. Aber hier stehe ich, nach meinem ersten Ultrarun und strahle bis über beide Ohren.
Fabian Mühleder

Der IATF findet zum achten Mal statt. Das Interesse wird von Jahr zu Jahr größer. Ich bin zum dritten Mal dabei. Und da stehe ich also auf dem roten Teppich und strahle. Von Tränen keine Spur, ich fühle mich großartig. (Maria Retter, 9.6.2023)