Supermassive Schwarze Löcher sind spektakulär. Laut dem Astrophysiker Günther Hasinger könnten aber gerade kleinere, uralte Schwarze Löcher eine bedeutende Rolle im Universum spielen.
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Eigentlich sollte das Universum, so wie wir es beobachten, nicht existieren. Wie Astronominnen und Astronomen bereits Anfang des letzten Jahrhunderts feststellen mussten, reicht die Masse all der glitzernden Sterne, bizarren Gasnebel und weit entfernten Galaxien nicht aus, um diese kosmischen Gebilde zusammenzuhalten. Konkret konnten Fachleute beobachten, dass Sterne zu schnell um ihr galaktisches Zentrum kreisen: Hielte sie nur die Schwerkraft der sichtbaren Masse in der Bahn, würden sie ins offene All davontreiben.

Doch da keine der abertausenden bekannten Galaxien solche akuten Auflösungserscheinungen zeigt, muss es zusätzliche Materie geben, deren Gravitation die Sterne auf Kurs hält. Nur, was soll diese "Dunkle Materie" getaufte Substanz sein – noch dazu, wenn sie fünfmal mehr Masse ausmacht als alle sichtbare Materie zusammen? Seit Jahren verspricht die Teilchenphysik Antworten: Wimps, schwere Partikel, die kaum mit anderen Teilchen wechselwirken, sollen die Bausteine der Dunklen Materie sein.

Der Physiker Günther Hasinger – ehemaliger Wissenschaftschef der europäischen Weltraumagentur Esa, zu der auch das Klimaschutzministerium finanziell beiträgt, und künftiger Gründungsdirektor des Deutschen Zentrums für Astrophysik – ist von Wimps nicht überzeugt. Für ihn stecken Schwarze Löcher, die kurz nach dem Urknall entstanden sind, hinter der Dunklen Materie. Diese These referierte Hasinger an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien – DER STANDARD hat ihn dort zum Interview getroffen.

STANDARD: Die Jagd nach den Teilchen, die die Dunkle Materie bilden, sei irregeleitet, für die Extra-Schwerkraft seien uralte Schwarze Löcher verantwortlich – Ihre These wirkt gewagt.

Hasinger: Zunächst würde ich die Suche nach Teilchen nicht irregeleitet nennen, sie hat nur bisher keine Ergebnisse geliefert. Anfänglich gab es ja viele Ideen, was Dunkle Materie sein könnte – ich selbst war lange davon überzeugt, dass, sobald wir den Teilchenbeschleuniger LHC einschalten, Dunkle-Materie-Partikel gefunden werden. Darauf habe ich sogar eine Kiste Champagner gewettet und leider verloren.

Astrophysiker Günther Hasinger
Astrophysiker Günther Hasinger.
ÖAW/Elia Zilberberg

STANDARD: Aber auf Schwarze Löcher würden Sie noch setzen. Wie sollen die Schwerkraftmonster die Effekte der Dunklen Materie erzeugen?

Hasinger: Dazu müssen wir erst klären, woher diese Schwarzen Löcher kommen. Gewöhnlich entstehen sie beim Tod eines sehr massereichen Sterns, der unter seiner eigenen Gravitation zusammenstürzt. Ich vertrete dagegen die Theorie, dass sich manche Schwarzen Löcher auch bereits beim Urknall gebildet haben.

STANDARD: Damals gab es noch keine Sterne, die kollabieren konnten. Woher sind diese primordial genannten Schwarzen Löcher gekommen?

Hasinger: In den ersten Sekundenbruchteilen nach dem Urknall bestand das Universum aus einer Art Quantenschaum, alle bekannten Teilchen haben sich ständig erzeugt und wieder vernichtet. Als das Universum sich dann sprunghaft ausdehnte, froren diese Fluktuationen ein: Die virtuellen Teilchen konnten sich nicht mehr gegenseitig auslöschen – aus dem Quantenvakuum wurden reale Partikel gezogen. Dabei kam es zu Bereichen mit höherer Dichte, so hoch, dass die Masse dort eigentlich gerne zu einem Schwarzen Loch kollabiert wäre.

STANDARD: Was hielt sie davon ab?

Hasinger: Die enorme Hitze des Urknalls. Die Teilchen waren zu schnell, um dem Gravitationskollaps zu folgen. Erst mit Ausdehnung des Universums konnten diverse Kräfte die thermische Bewegung überwinden, wodurch sich etwa aus Quarks Protonen und Neutronen bildeten. Nach solchen Übergängen lag plötzlich mehr Raum zwischen den einzelnen Teilchen, wodurch die Schwerkraft auf diese Partikel einwirken konnte – die Wahrscheinlichkeit, dass ein Raumvolumen zu einem Schwarzen Loch zusammenstürzt, stieg exponentiell.

STANDARD: Also formten sich an den verschiedenen Phasenübergängen, die zwischen der heißen Ursuppe und den heute bekannten Partikeln liegen, jeweils Schwarze Löcher?

Hasinger: Genau, in diesem Bild entstanden in den ersten zwei Sekunden Schwarze Löcher mit der Masse von Planeten, im nächsten Schritt Löcher mit etwa einer Sonnenmasse, danach mit einigen Dutzend, dann mit einigen Hundert Sonnenmassen, bis hin zu Schwarzen Löcher, die Millionen von Sonnenmassen aufweisen. Während unser Universum noch ein Plasmaball war, hunderttausende Jahre bevor sich Atome bildeten, spielten diese Schwarzen Löcher bereits ihr Spiel: Um ein supermassereiches Schwarze Loch ordneten sich jeweils kleinere an und bildeten Halos. Dabei handelt es sich quasi um Badewannen, in die normale Materie hineinfällt.

STANDARD: Kosmische Badewannen kann ich mir sehr schwer vorstellen.

Hasinger: Dann sprechen wir von Fischernetzen: Zunächst schwimmt noch heiße Ursuppe durch die Maschen der Schwarzen Löcher, doch mit der fortschreitenden Abkühlung des Alls bleibt mehr und mehr Materie im Netz hängen. Als sich dann genügend kalte Klumpen aus normaler Materie ballen konnten, entstanden erste Sterne. Die Schwarzen Löcher bilden also das unsichtbare Skelett oder Gerüst, in das sich die sichtbare Materie einbaut.

Tarantelnebel James Webb
Auf der Suche nach der sogenannten Dunklen Matarie tappen Forschende weiter im Dunkeln. Viele Hoffnungen liegen auf dem Weltraumteleskop Webb, dem diese spektakuläre Aufnahme des Tarantelnebels gelang.
APA/AFP/NASA/Space Telescope Science Institute

STANDARD: Wenn Ihr Modell zutrifft, wären Schwarze Löcher, die unbeobachtet zwischen den Sternen liegen, viel häufiger als gedacht. Ist das auch eine potenzielle Gefahr für die Erde?

Hasinger: Es ist ein Irrglauben, dass alles einfach in Schwarze Löcher hineinfällt. Tatsächlich ist es sehr schwierig, Materie hinter den Ereignishorizont zu bekommen – und zwar wegen der Drehimpulserhaltung. Aus demselben Grund denken die Ringe des Saturns nicht daran, in den Planeten zu stürzen. Um ein Schwarzes Loch effektiv zu füttern, braucht es eine sehr hohe Dichte, wie sie etwa im Zentrum zweier zusammenstoßender Galaxien herrscht. Man muss sich also keine Sorgen um die Erde machen – obwohl unser Modell vorhersagt, dass praktisch jedes Sonnensystem ein Schwarzes Loch als Partner hat.

STANDARD: Gibt es in unserem Heimatsystem dafür Anhaltspunkte?

Hasinger: Ja. Ein etwa fünf Erdmassen schweres Schwarzes Loch könnte hinter dem postulierten "Planet X" stecken, der die Sonne in weitem Abstand umkreist – und sich nur durch seinen Einfluss auf die Bahnen verschiedener Zwergplaneten und anderer Körper des äußeren Sonnensystems bemerkbar macht.

STANDARD: Was spricht eigentlich gegen Wimps?

Hasinger: Grundsätzlich nichts. Man hat sie eben noch nicht gefunden. Unsere Theorie löst en passant aber auch andere Rätsel: Zum Beispiel wissen wir, dass es schon relativ bald nach dem Urknall sehr massereiche Quasare gab. Ohne ein primordiales Schwarzes Loch als Keim ist deren Existenz schwer nachzuvollziehen. Diese Objekte könnten die ersten Zeugen der Dunklen Materie sein. Auch Verschmelzungen Schwarzer Löcher, die wir über das Gravitationswellen-Interferometer Ligo beobachten, zeigen, dass es schon früh sehr massereiche Schwarze Löcher gab, die wohl auf den Urknall zurückgehen müssen.

STANDARD: Die zwei Theorien basieren auf unterschiedlichen Annahmen. Was sollten wir beobachten, wenn Ihr Modell stimmt?

Hasinger: Wenn Dunkle Materie aus Schwarzen Löchern besteht, sollte die erste Sterngeneration schon viel früher auftreten. Wir erwarten daher, dass auf den tiefsten Aufnahmen des James-Webb-Teleskops etwa zehnmal mehr Galaxien zu sehen sind als bisher angenommen. Und tatsächlich hat Webb diese überzähligen Galaxien gefunden. Ob das als Beweis für unser Modell genügt, wird heftig diskutiert.

Schwarze Loch M87 und Sagittarius A*.
Diese Aufnahmen zeigen die ersten beiden Bilder, die jemals von Schwarzen Löchern aufgenommen wurden. Links ist M87 zu sehen, auf der rechten Seite befindet sich Sagittarius A*.
EHT Collaboration

STANDARD: Welche Missionen könnten mehr Licht in die Sache bringen?

Hasinger: Den Beweis für unsere These wird die nächste Generation der Gravitationswellen-Observatorien erbringen, allen voran Lisa (Laser Interferometer Space Antenna, Anm.), deren Start die Esa für 2037 projektiert. Findet diese Mission Gravitationswellen von sehr massereichen Schwarzen Löchern, die bereits im frühen Universum verschmolzen sind, wäre das der Hammer. Unserem Modell zufolge müsste es auch Schwarze Löcher mit weniger als einer Sonnenmasse geben. Und die kann Ligo sehen! Mit ein bisschen Glück werden wir daher schon in den nächsten eineinhalb Jahren den Beweis haben.

STANDARD: Sie sind also davon überzeugt, dass es im Rennen um die Erklärung der Dunklen Materie die Astronomie vor der Teilchenphysik über die Ziellinie schafft?

Hasinger: Ja. Überhaupt war in den letzten Jahren die Astronomie für die wirklich wichtigen Neuerungen verantwortlich, Stichwort Dunkle Materie, Dunkle Energie. Die Physik dagegen steckt in einer tiefen Krise. Alle haben gehofft, dass Cern das Rennen um die Dunkle Materie macht – vergeblich. Daraufhin forderten Fachleute einen noch größeren Beschleuniger. Aber wenn die Suche schon bisher erfolglos war, wieso sollte es gerade bei dieser Steigerung anders sein? Dagegen sind unsere Schwarzen Löcher ein echter Gamechanger und kommen zudem ohne neue Physik aus: Es braucht nur die Standardmodelle der Teilchenphysik und der Kosmologie. (Dorian Schiffer, 31.5.2023)