Nitsch
Blutige Angelegenheiten auf Schloss Prinzendorf: Hermann Nitschs 6-Tage-Spiel mit gehäutetem Stier
Feyerl

Im Jahre 1998, als das 6-Tage-Spiel das erste und bis heute einzige Mal in seiner gesamten Länge stattfand, bat Hermann Nitsch noch, auf exzessives Trinken zu verzichten, um nicht die Kontrolle über sich zu verlieren. Jetzt, 25 Jahre später, stehen die Doppler mit Rotwein zwar griffbereit, der Konsum hält sich aber in Grenzen. Die Orgie und die Ekstase müssen ohne bewusstseinserweiternde Substanzen auskommen. Dafür läuft der dritte Tag des 6-Tages-Spiels, der Tag des Dionysos, mit äußerster Präzision ab.

Wurzel- und Reisfleisch

Kurz nach fünf Uhr morgens öffnen sich am Pfingstsonntag die Tore zum Schloss Prinzendorf, Glockengeläut begleitet den Aufgang der Sonne. Der Ablauf der kommenden 24 Stunden wurde von Nitsch exakt festgelegt, in den letzten beiden Jahrzehnten arbeitete er fast täglich an der noch genaueren Ausarbeitung des in dicken Wälzern festgehaltenen Orgien Mysterien Theaters. Es steht im Zentrum von Nitschs Werks, alle seine künstlerischen Aktivitäten, von seiner Malerei bis zu seinen kompositorischen Arbeiten, beziehen sich darauf.

Noch einmal wollte Nitsch das 6-Tage-Spiel in seiner gesamten Länge aufführen, doch dann kam Corona und schließlich, am Ostermontag des letzten Jahres, starb der damals 83-jährige Meister. Im Juli vergangenen Jahres gingen dann unter Federführung seiner Witwe Rita die ersten beiden Tage des Spiels über die Bühnen in und rund um Schloss Prinzendorf. Und heuer also Tag drei.

Eine Prozession schlängelt sich durch die Allee von Schloss Prinzendorf: Hier realisierte die Witwe des Künstlers, Rita Nitsch, am Pfingstsonntag den dritten Tag des 6-Tage-Spiels.
Feyerl

Wie bei einer Symphonie folgt beim 6-Tages-Spiel auf das Präludium und Adagio das Scherzo, also ein heiterer und schnell gespielter Teil. Der Vormittag lässt sich im niederösterreichischen Schloss aber gemächlich an, die vier Orchester aus über 100 Musikanten stimmen das Leitmotiv des Tages an, eine als Grundton durchlaufende Quint. Eine nackte Frau liegt mit verbundenen Augen in der Sonne, Bottiche mit Trauben und Tomaten stehen bereit. Erst einmal gilt es aber, mit Wurzel- und Reisfleisch eine gute Unterlage für den Magen zu schaffen, um über die Kreuzigungsaktion des Nachmittags zu kommen.

Um Punkt 14 Uhr wird ein gehäuteter Stier vor einer weißen Leinwand in die Höhe gehievt, symbolisch weidet man ihn aus, wühlt real in den Gedärmen. Geruchsschwaden ziehen durch den Innenhof, noch überdeckt vom Weihrauch, der verbrannt wird. In den kommenden fünf Stunden werden auf Bahren immer neue Performer in den Innenhof getragen, an den Stier gebunden, mit Blut überschüttet. Eine Prozession schlängelt sich durch die Schlossallee.

nitsch museum Mistelbach

Wie bei jedem Ritual kommen Wiederholungen und Variationen wichtige Rollen zu. Eine Akteurin wird kopfüber an den Stier gebunden, neben dem Stier kommt bald auch ein gehäutetes Schwein zum Einsatz. Immer dringlicher schwillt die Musik an, in einem Bassin zertrampeln die mittlerweile blutüberströmten oder -befleckten Akteure die Trauben, Tomaten und Gedärme. Sie werden in Bottichen auf die Schlosswiese getragen, ein Pfiff erschallt – schon stürzt sich die Meute wieder ins Getümmel.

Musikalische Exzesse

"Erreichung des Grundexzesserlebnisses" hat Hermann Nitsch diesen Abschnitt des Tages genannt. Langsam sinkt die Sonne am Horizont, die Farben und Gerüche werden noch kräftiger, die Akteure fallen sich aus Erschöpfung in die Arme. Doch Dirigent Andrea Cusumano lässt nicht locker, immer wieder heben die Streicher an, Glocken läuten, Rasseln rasseln, minutenlang werden Töne gehalten.

Die Musik ist neben der Präzision des Ablaufs die größte Überraschung an diesem Tag, allein dafür lohnt sich der Ausflug ins Weinviertel. Erst kurz vor sieben kehrt wieder Ruhe ein, der Stier wird gewaschen und auf eine Trage gebunden, hinter der die versammelte Mannschaft durch die Kornfelder zieht. Begleitet von Blasmusik, Gelsen und Erdäpfelgulasch klingt der Tag aus. Der Blutgeruch aber folgt einem bis nach Hause. (Stephan Hilpold, 31.5.2023)