Was hat es zu bedeuten, dass fast 74 Prozent der türkischen Wählerinnen und Wähler in Österreich Recep Tayyip Erdoğan ihre Stimme gegeben haben? Also dem autokratisch regierenden, konservativ-islamistischen Präsidenten der Türkei, der der von ihm massiv bekämpften Opposition noch am Wahlabend ausrichtete: "Wir werden bis zum Grab zusammen sein." Wie sind die Autokorsos und Jubelfeiern am Wahlabend in Wien-Favoriten zu interpretieren, wo rund 500 bis 600 Menschen den Sieg "ihres" Präsidenten feierten und von denen einige "Allahu Akbar" (Gott ist am größten) riefen oder auch den in Österreich verbotenen "Wolfsgruß" der rechtsextremen türkischen Gruppe Graue Wölfe zeigten? Wurde hier das Scheitern der Integration sichtbar?
Die FPÖ hatte die Feierkundgebungen als "Ergebnis von jahrzehntelangen Versäumnissen beim Thema Integration" interpretiert. Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) schrieb auf Twitter: "Vom Ausland importierter Nationalismus ist das Gegenteil von Integration und hat bei uns keinen Platz."
Die Moschee im Dorf lassen
Wie aber ordnen Kenner der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der Türkei und Integrationsexperten die Sache ein? Politikwissenschafter Hüseyin I. Çiçek rät im STANDARD-Gespräch dazu, genau hinzuschauen und "jetzt nicht alle Erdoğan-Wähler in Österreich zu Sündenböcken zu machen oder zu verteufeln", sondern quasi "die Moschee im Dorf zu lassen", denn: "Viele von denen, die am Reumannplatz gefeiert haben, werden heute ganz normal ihrer Arbeit nachgehen und nicht die österreichische Gesellschaft spalten wollen."
Zu sagen, Integration sei nicht gelungen, "greift daher zu kurz", sagt Çiçek, der es zwar schade findet, "dass die Oppositionsanhänger nicht auf der Straße waren". Aber er sieht in den öffentlichen Feiern der Türken in Wien auch ein Zeichen dafür, dass sie sich eben als Teil dieser Gesellschaft sehen. "In den 80er-Jahren hätten sie sich das gar nicht getraut. Die türkische Community hat sich auch hochgearbeitet – im Dienstleistungsbereich, in Banken, als Anwälte. Heute gibt es daher eine gewisse Symmetrie oder Augenhöhe mit der Mehrheitsgesellschaft. Die Türkischstämmigen sagen: Wir sind da, ein Teil Österreichs, aber wir fühlen uns auch als Teil des Landes unserer Eltern – und morgen gehen wir wieder arbeiten oder in die Schule." Generell gibt der Politologe eines zu bedenken: "Politische Teilhabe in Österreich ist sehr wichtig, bedeutet aber nicht, dass es weniger Konflikte gibt."
"Wolfsgruß" sanktionieren
Verbotene Handzeichen wie der "Wolfsgruß" seien bei solchen Versammlungen "genauso ernst zu nehmen wie bei jeder anderen Gruppe und mit den Mitteln des demokratischen Rechtsstaats zu sanktionieren", sagt der Experte.
Die wehrhafte Demokratie, die insbesondere in der Schule eine der wichtigsten Säulen hat, spricht auch der Soziologe Kenan Doğan Güngör an. Sozialpsychologisch seien die Siegesfeiern "völlig nachvollziehbar", sagte er im Ö1-Morgenjournal. Wer gewinnt, ob bei einer Wahl oder einem Fußballspiel, freue sich in der Regel. Der Integrationsexperte sieht aber in dem Fall schon "ein tieferliegendes demokratiepolitisches Problem", nämlich die "Tatsache, dass diese jungen Menschen in einem demokratischen Rechtsstaat rausgegangen sind für ein autoritäres Regime". Darum müsse man sich hierzulande fragen, "wie ist das möglich, wenn Kinder hier neun Jahre in die Schule gehen, dass wir so wenig von unserer demokratischen Orientierung mitgeben konnten".
Güngör nennt die jubelnden jungen Leute mit türkischem Hintergrund "Symptome" für bestimmte strukturelle, soziodemografische und familiäre Hintergründe, die das starke Erdoğan-Ergebnis hierzulande miterklären können. Der neue alte Präsident habe "in klassischen Aufnahmeländern für Arbeitsmigranten der 1960er-Jahre überproportional hoch gewonnen". Die damals rekrutierten "Gastarbeiter" stammten vor allem "aus dem ländlichen, religiösen, traditionellen Teil der Türkei" – und jetzt zeige sich ein "generationsübergreifender Effekt, dass auch die dritte Generation diese Einstellungen weitertradiert".
In Graz siegte Kemal Kılıçdaroğlu
Ein interessantes Detailergebnis gibt es übrigens in Graz, wo besonders viele Kurden leben: Die steirische Landeshauptstadt ist in Österreich die einzige Stadt, wo Erdoğan keine Mehrheit bekam, sondern 51,6 Prozent den Oppositionskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu wählten.
Auch diese Teilwahl erklärt sich migrationshistorisch. 80 bis 90 Prozent der Migrantinnen und Migranten in Graz seien Kurden, die im Rahmen der klassischen "Kettenmigration", bei der oft immer neue Familienmitglieder aus derselben zentralanatolischen Region nachgezogen seien, nach Österreich gekommen sind, erklärt Cengiz Günay, Direktor des Österreichischen Instituts für internationale Politik.
Er sieht in den innenpolitischen Reaktionen auf die Wahlentscheidung der hier lebenden Türkinnen und Türken vor allem eine "sensationistische" Instrumentalisierung. Wer sich am Ergebnis stoße und ein "echtes demokratiepolitisches Interesse" an dieser Gruppe habe, müsste ihnen demokratiepolitische Angebote machen, sagt Günay.
Selbstwert durch "starken Mann"
Der Politikwissenschafter sieht ein Bündel an Faktoren, das bei der Erdoğan-Wahl gewirkt habe: Neben der politischen und ethnoreligiösen Identität, die eng mit der Herkunftsregion zusammenhänge, sowie Erdoğans "Er ist einer von uns"-Stilisierung spielten auch in Österreich erlebte Anerkennungsdefizite eine Rolle: "Die Leute fühlen sich oft diskriminiert und ausgegrenzt. Da hebt die Wahl des ,starken Mannes‘ in der Türkei auch den eigenen Status und Selbstwert hier", sagt Günay.
Welche Angebote meint er? Etwa die Möglichkeit der Doppelstaatsbürgerschaft: "Ein leichterer Zugang wäre ein wichtiges Zeichen: Ihr seid angekommen." In der Schule müsste mehr auf die gesellschaftliche Diversität und unterschiedliche Sichtweisen eingegangen werden. Vor allem aber brauche es mehr Demokratieunterricht und politische Bildung für alle Kinder und Jugendlichen. (Lisa Nimmervoll, 31.5.2023)