In Österreich leben rund 280.000 Menschen mit "türkischem Migrationshintergrund" (beide Eltern im Ausland geboren). Davon sind rund 120.000 türkische Staatsbürger. Die Wahlberechtigten unter ihnen wählten bei der Stichwahl am Sonntag zu fast 74 Prozent den Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan – obwohl sie in einer Demokratie mit guter wirtschaftlicher Entwicklung leben, was man von Erdoğans Herrschaft nicht sagen kann. Was könnten die Hintergründe sein?

Wahlparty mitten in Favoriten: Anhänger des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.
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Ländlicher Raum

Ein Großteil der ursprünglich eingewanderten Menschen türkischer Herkunft (österreichische Staatsbürger oder nicht) in Österreich stammt aus Zentralanatolien, konkret aus der Provinz Yozgat, einem eher rückständigen ländlichen Raum.

Sie sind schlechter ausgebildet als etwa solche aus dem ehemaligen Jugoslawien – volle 61 Prozent im Erwerbsalter haben nur Pflichtschule (Ex-Jugoslawien: 33 Prozent). Türkische Staatsbürger in Österreich sind in höherem Maße arbeitslos (rund 19 Prozent). Und Frauen mit türkischem Hintergrund sind in viel höherem Maße nicht erwerbstätig (rund 45 Prozent der 15- bis 24-Jährigen). Menschen mit türkischem Hintergrund sind mehr als andere große Migrationsgruppen in ein dichtes Netz von staatlichen und religiösen Institutionen eingebunden – oft direkt unter der Kontrolle des türkischen Staates. Die staatliche türkische Religionsbehörde Diyanet hat großen Einfluss auf die sunnitischen Türken in Österreich.

Traditionelle Strukturen

Drei große Vereine kümmern sich um das religiöse und nationale Leben: die Atib (Türkisch-Islamische Union für kulturelle und soziale Zusammenarbeit in Österreich), deren Verbindungen zum türkischen Staat besonders eng sind; die Islamische Föderation, hinter der sich die religiös-nationalistische Milli Görüs ("nationale Sicht") verbirgt; und die Österreichische türkische Föderation, die wiederum ein Mantel der rechtsextremen, ultranationalistischen Grauen Wölfe ist.

Die traditionellen Familienstrukturen – Mann als Familienoberhaupt und autoritärer Vater, Mutter Nur-Hausfrau, relativ niedriges Heiratsalter der Jungen – sind bei den Menschen türkischer Abstammung wesentlich ausgeprägter als in der modernen österreichischen Gesellschaft insgesamt.

Bildung, Emanzipation, Modernisierung

Die Emanzipierten und die Aufsteiger sind also eher schwach vertreten. Das spüren viele (auch weil man es sie spüren lässt), und sie reagieren mit gesellschaftlicher Abschottung und Nationalstolz. Vertrauen in einen "starken Führer" wie Erdoğan, der ein "türkisches Jahrhundert" verspricht und eine "Wir sind wieder wer"-Propaganda verbreitet. Die Stichwahl fand übrigens am Jahrestag der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen im Jahr 1453 statt, worauf Erdoğan und seine Propaganda auch kräftig Bezug nahmen. Dass sich dieser antieuropäische Triumphalismus indirekt auch auf die Haltung der türkischen Bevölkerung in Europa auswirkt, ist anzunehmen.

So weit die möglichen Hintergründe der weit überproportionalen Erdoğan-Liebe der in Österreich lebenden türkischen Staatsbürger. Was man tun kann, um diese problematische politische Haltung zu ändern, ist eine schwierige Frage. Aber wahrscheinlich muss man stärker bei den oben geschilderten Gegebenheiten ansetzen: Bildung, Emanzipation, Modernisierung. (Hans Rauscher, 31.5.2023)