Im Gastblog zeigt die Rechtswissenschafterin Marija Bilić, wie der Verfassungsgerichtshof vom Austrofaschismus in seinen Kompetenzen eingeschränkt wurde, um autoritäre Maßnahmen durchzusetzen.

Am 4. März 2023 jährte sich die Ausschaltung des Parlaments der Ersten Republik und damit der Weg in ein autoritäres System zum 90. Mal. Bald darauf wurde unter der Regierung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß zudem eine Institution ausgeschaltet, der der Schutz unserer Verfassung anvertraut ist: der Österreichische Verfassungsgerichtshof. Dieser Blogbeitrag soll zeigen, wie eine just (selbst durch Verfassungsbruch) entstandene Demokratie bereits nach kurzer Zeit in einer Diktatur endete und welche Folgen das für die österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit hat.

Österreichs Weg in die Demokratie

Die Zeit der Ersten Republik war von einer Reihe wirtschaftlicher und politischer Krisen geprägt. Die verheerende Lage zog auch nach Ende des Ersten Weltkrieges zahlreiche gewaltsame Konflikte nach sich. Zur gleichen Zeit änderte sich die staatsrechtliche Ordnung grundlegend. Österreich verabschiedete sich mit dem von Kaiser Karl I. am 16. Oktober 1918 erlassenen Oktober-Manifest als letztes wichtiges verfassungsrechtliches Dokument von der Monarchie und bestritt den Weg in den auf revolutionärem Wege gegründeten Staat "Deutschösterreich" (Wiener Zeitung vom 17. Oktober 1918, Nr. 240). Eine orientierungslose Gesellschaft auf dem Gebiet des unerwünschten "Rest-Österreichs" hoffte auf Stabilisierung.

Österreichs Weg in die Diktatur

Die Ausschaltung des Parlaments

Die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen führten zunehmend zur Verhärtung der politischen Fronten. Vor diesem Hintergrund erreichten die ideologischen Konflikte zwischen den unterschiedlichen politischen Lagern letztlich ihren Höhepunkt im Rahmen einer außerordentlichen Sitzung des Nationalrates, welche wegen eines Streiks der Eisenbahnangestellten am 4. März 1933 einberufen wurde. Aufgrund von Meinungsverschiedenheiten über einen Formalfehler eskalierte die parlamentarische Auseinandersetzung, woraufhin alle drei Präsidenten des Nationalrates zurücktraten.

Dies führte zur (temporären) Handlungsunfähigkeit des Parlaments. Die Geschäftsordnung sah für einen solchen Fall keine Regelung vor. Damit war die Sitzung unterbrochen. Bundeskanzler Dollfuß wertete diesen für die Bundesregierung überaus willkommenen Vorfall als "Selbstausschaltung des Parlaments", schränkte daraufhin mittels Verordnung die Pressefreiheit ein und verhinderte mithilfe der Exekutive eine neuerliche Einberufung des Parlaments am 15. März 1933. Eine auf das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz (KWEG) aus dem Jahre 1917 gestützte Regierungsgesetzgebung wurde aus der Taufe gehoben.

Das KWEG als Spazierstock in ein autoritäres System

Das KWEG wurde gemäß § 7 Abs. 2 Verfassungs-Überleitungsgesetz 1920 (VÜG) aus dem Rechtsbestand der Monarchie in die Rechtsordnung des neuen Staates Deutschösterreich überführt. Der Zweck des KWEG lag darin, der Bundesregierung das Pouvoir zu erteilen, während der Dauer der durch den Krieg hervorgerufenen außerordentlichen Verhältnisse, somit in Zeiten der Not, durch Verordnung die notwendigen Maßnahmen zur Förderung und Wiederaufrichtung des wirtschaftlichen Lebens zu treffen.

Schwarz-Weiß Aufnahme von Engelbert Dollfuß
Engelbert Dollfußin Uniform als Oberleutnant der Kaiserschützen.
Foto: Gemeinfrei

Indes diente das KWEG aber letztlich der Regierungsgesetzgebung und damit insgesamt der Errichtung einer Diktatur. Die Regierung sah sich nun in der Funktion des Gesetzgebers und erließ seit März 1933 gestützt auf das KWEG binnen eines Jahres über 470 Verordnungen. Eine die Gewaltenteilung konterkarierende Regierungsgesetzgebung war die Folge.

Die Ausschaltung des Verfassungsgerichtshofs

Die durch die Bundesregierung erlassenen Verordnungen waren mitunter gesetzes- und verfassungsändernder Natur. Die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Regierungsverordnungen oblag gemäß Art. 139 B-VG dem VfGH, der im Wege zahlreicher Anfechtungen angerufen wurde. So stellte beispielsweise auch die Wiener Landesregierung einen Antrag auf Prüfung der Verordnung zur Einschränkung der Pressefreiheit. Der Bundesregierung war durchaus bewusst, dass die rechtliche Grundlage, auf die sie ihre Verordnungen stützte, umstritten war. Daher war aus ihrer Sicht ein Ende der Regierungsgesetzgebung zu befürchten, weswegen sie den VfGH am Normenkontrollverfahren hindern wollte und ihn durch Erlass der – ebenfalls auf das KWEG gestützten – Besetzungsverordnung (BesetzungsVO) am 23. Mai 1933 de facto handlungsunfähig machte.

Die BesetzungsVO änderte das Verfassungsgerichtshofsgesetz (VfGG). Nunmehr war in § 6 Abs. 3 VfGG vorgesehen, dass die auf Vorschlag des Nationalrates oder auf Vorschlag des Bundesrates ernannten Mitglieder und Ersatzmitglieder nur dann an Sitzungen und Verhandlungen teilnehmen durften, wenn dem VfGH sämtliche vom Nationalrat und Bundesrat ernannten Mitglieder und Ersatzmitglieder angehörten. Koinzident mit dem Erlass der BesetzungsVO wurden (von der Regierung politisch motiviert und veranlasst) insgesamt sieben Rücktrittserklärungen abgegeben, dem folgend die neue Besetzungsvorschrift ihre Wirksamkeit entfalten konnte. Dies hatte zur Folge, dass der VfGH ab Ende Mai 1933 nur noch in wenigen Angelegenheiten beschlussfähig war und daher kein Normenprüfungsverfahren durchführen konnte. Bundespräsident Wilhelm Miklas wurde durch die übrigen Richter ersucht, die vakanten Stellen nachzubesetzen, um so die Wiederaufnahme der Tätigkeit des VfGH zu ermöglichen. Wenig überraschend ist, dass die Ernennung neuer Mitglieder durch die Regierung unterblieb.

Blieb den Verfassungsrichtern ein Ausweg?

Ob die verbliebenen Mitglieder des VfGH, die am 22. Juni 1933 in der Junisession zu einer Sitzung zusammentraten, die Ausschaltung hätten tatsächlich verhindern können, wurde vielfach diskutiert. Wenngleich rechtlich zahlreiche Lösungsansätze in Betracht gezogen wurden, dürfte es faktisch (Dollfuß reagierte auf die versuchte neuerliche Einberufung des Parlaments im März 1933 bereits mit Polizeigewalt) dennoch keine Möglichkeit gegeben haben, die Ausschaltung des VfGH zu verhindern. Eine gewisse Resignation der Richter, welche der Regierung Dollfuß wiederum in die Karten spielte, ist jedenfalls nicht zu verkennen. Wäre ein stärkeres und zweifellos wünschenswertes Streben der Richter nach Bewahrung der verfassungsmäßigen Ordnung möglich gewesen? Zur richterlichen Überprüfung der Regierungsverordnungen wäre eine Sitzung im Plenum erforderlich gewesen, deren Zustandekommen jedoch aufgrund der zahlreichen Rücktritte schier unmöglich war – dies vor dem Hintergrund, dass sich die verbliebenen Richter (fälschlicherweise?) an die Vorschriften der Besetzungsverordnung (jedenfalls bis zu ihrer Aufhebung) halten wollten.

Unbestritten ist, dass die Regierungsverordnungen, welche die durch das KWEG geschaffenen Grenzen der Ermächtigung überschritten, als absolut nichtig, das heißt, rechtlich nicht existent zu betrachten waren. Zu beachten ist dabei jedoch, dass auch dieser Umstand (verfassungs)rechtlich zumindest dem Anschein nach ex post "saniert" wurde, stützte die Regierung am 24. April 1934 in einem revolutionären Akt doch eine ganze Verfassung auf das KWEG und brach damit die Verfassungskontinuität abermals. Eine neue Verfassung stellte auch damals schon eine Gesamtänderung der Verfassung dar, weswegen gemäß Art. 44 Abs. 2 (heute Abs. 3) B-VG unter anderem das Bundesvolk im Rahmen einer Volksabstimmung in das Verfahren hätte einbezogen werden müssen. Die Verfassung von 1934 erfüllte weder die zur Entstehung einer Verfassung notwendigen Voraussetzungen, noch gab es die Möglichkeit, das Zustandekommen einer solchen rechtlich überprüfen zu lassen. Die Geschichte lehrt uns: Rechtliches Dürfen ist nicht gleich faktisches Können. (Marija Bilić, 2.6.2023 )