Bibliothek Unis sexuelle Belästigung
Der Umgang von Unis mit übergriffigen Lehrenden ist nicht immer leicht zu durchblicken.
DER STANDARD / Heribert Corn

An der Wiener Med-Uni gibt es ein offenes Geheimnis. Es betrifft einen langgedienten Professor, dem vor allem weibliche Studierende seit vielen Jahren tunlichst ausweichen. Warum, ist offenbar allgemein bekannt. Erkundigt man sich an der größten Medizin-Uni des Landes zu mutmaßlichen Vorfällen sexueller Belästigung durch Lehrende, dann kommt die Sprache rasch auf ihn. Auch auf Online-Plattformen, über die sich Studierende zu Kursen austauschen, sprießen schon seit längerem Vorwürfe über unangebrachte Berührungen und übergriffige, sexualisierte Anspielungen des Professors. 

Erzählungen über solche Lehrpersonen kursieren an vielen Hochschulen, regelmäßig schwingt aber die Frage mit: Wenn unter der Hand gleichsam ohnehin alle Bescheid zu wissen scheinen und es sich nicht bloß um böswillige Gerüchte handelt, was tut die Uni dann dagegen? Werden die Studierenden vor künftigen Übergriffen geschützt, oder walten die Professoren in ihrer Autoritätsposition unbehelligt weiter?

Betroffene meist weiblich

Eine allgemeingültige Antwort auf diese Fragen gibt es nicht, ihre Relevanz an Österreichs Hochschulen scheint aber beträchtlich: Laut einer Umfrage, die die Österreichische Hochschülerschaft (ÖH) 2022 beauftragt hat, sind knapp zwölf Prozent aller Studierenden innerhalb eines Jahres sexuell belästigt worden. Der Großteil davon ist weiblich, wobei 80 Prozent der Fälle den offiziellen Stellen nicht gemeldet wurden. Unter den Tätern sind laut der Umfrage zwar die Mehrheit selbst Studierende, doch in immerhin 40 Prozent der Fälle richten sich die Vorwürfe an Lehrende. Als deren Arbeitgeberin trifft die Uni eine besondere Verantwortung, um die Studierenden zu schützen.

Dieser gerecht zu werden ist nicht immer einfach. So wandten sich vergangene Woche zwei Drittel der Studierendenschaft des Wiener Max-Reinhardt-Seminars in einem offenen Brief an ihre Rektorin Ulrike Sych, um über die Öffentlichkeit mehr Druck auszuüben. Es habe sich seit einer STANDARD-Recherche vom vergangenen Jahr zu mehreren #MeToo-Fällen an der Uni "nichts getan, nichts verändert", heißt es in dem Brief. Alle Verantwortlichen der Universität wiesen die Vorwürfe damals vehement zurück. Zunächst hieß es von Institutsleiterin Maria Happel, man habe die Causa entgegen der Studierendensicht "diskret und vorbildlich gelöst". Am Dienstag wurde aber bekannt, dass Happel ihre Funktion als Institutsleiterin zurücktritt.

Auch im Fall des Wiener Medizinprofessors hat eine Gruppe "besorgter und enttäuschter StudentInnen" in Form von Briefen um Hilfe gebeten. Anonymisiert schickte sie im vergangenen Jahr zwei Schreiben an die ÖH und an Mitglieder eines hochrangigen Uni-Gremiums, für das der Professor zum damaligen Zeitpunkt kandidierte. Sie wiesen darauf hin, dass der Lehrende seine Lehrtätigkeit an einer anderen österreichischen Universität bereits vor mehr als einem Jahr habe aufgeben müssen, weil Beschwerden gegen ihn gemeldet, überprüft und von der Uni als glaubhaft befunden worden seien.

Vorwürfe gleich an zwei Unis

Die von den Studierenden genannte ehemalige Uni des Professors und auch die dortige ÖH bestätigen die Angaben in den Briefen. Die Uni betont auf STANDARD-Anfrage: Jegliche Zusammenarbeit mit dem Lehrenden sei im Jahr 2021 nach eingehender Prüfung von Beschwerden beendet worden, denn "ein derart unprofessionelles und diskriminierendes Verhalten wird bei uns nicht geduldet".

An der Med-Uni Wien dürfte es damals jedoch noch keine Sanktionen gegeben haben, auch der Informationsfluss zwischen den Hochschulen begann offenbar erst mit einem Jahr Abstand: Die Med-Uni Wien sagt, man habe von den Trennungsgründen der anderen Uni erst im Spätsommer 2022 durch eine Nachfrage erfahren. Eine gleichartige Studierendenbeschwerde gegen den Professor hatte es an der Med-Uni allerdings schon Jahre davor gegeben.

Eine damalige Medizinstudentin bestätigt dem STANDARD, dass sie bereits 2019 übergriffige Berührungen, die ihr in einem Praktikumskurs widerfuhren, bei der ÖH und der zuständigen Uni-Stelle gemeldet habe. Was mit ihren Schilderungen passiert sei, wisse sie bis heute nicht. Niemand, auch nicht die ÖH, habe mit ihr seither wieder Kontakt aufgenommen. Warum der Professor an der Med-Uni weiter lehren durfte, an der anderen Universität aber nicht mehr? Zu konkreten Fällen und Vorwürfen wolle man "aus datenschutz- und dienstrechtlichen Gründen" nicht Stellung nehmen, schreibt ein Med-Uni-Sprecher. 

Misstrauen und Recherchen

Die Medizinuni bietet diverse Beratungsangebote und Anlaufstellen, die anonym, kostenlos und vertraulich sind. Sie betont, dass jedem Verdachtsfall individuell nachgegangen werde. Allerdings schienen manche Studierende dem vorhandenen Angebot nicht zu vertrauen und wandten sich deshalb mit den Briefen auch an den STANDARD.

Zeitgleich zu den STANDARD-Recherchen stieg dann auch an der Uni die Aufmerksamkeit für den Fall. Die ÖH schickte Anfang April einen Aufruf an alle Studierenden, sich zu melden, sollten Lehrende sich "ungebührlich oder unangemessen" verhalten. Besonders in Lehrveranstaltungen, die in einem bestimmten Teil des Curriculums absolviert werden müssen, hätten sich Beschwerden gemehrt, hieß es in der Mail. Es ist genau jener Teil, in dem auch der besagte Professor lehrt.

Auch auf der höchsten Entscheidungsebene scheinen Konsequenzen gesetzt worden zu sein: Mehrere Quellen, die namentlich nicht genannt werden wollen, bestätigten, dass der Professor per Weisung vom Kleingruppenunterricht abgezogen worden sei. Bestätigen wollte die Uni diese Information nicht, der Professor ließ Fragen unbeantwortet. Ein Blick ins Vorlesungsverzeichnis untermauert den geschilderten Hergang zumindest für das aktuelle Semester.

Viel Spielraum

Zwischen Studierenden und Professoren herrscht ein hierarchisches Gefälle, das die Ausnutzung von Macht begünstigt – beispielsweise weil Studierende auf das Bestehen eines Kurses oder die Kooperation eines Betreuers in ihrem Fortkommen angewiesen sind. Um Missbrauch zu vermeiden, wurde schon vor mehr als zwei Jahrzehnten jede Uni per Gesetz verpflichtet, einen sogenannten Arbeitskreis für Gleichbehandlungsfragen (AKG) einzurichten (siehe Wissenskasten). Auch Personalentwicklungsprogramme und Schulungen zu dem Thema gehören an den meisten Unis mittlerweile zum Standard. Die hohe Dunkelziffer an belästigten Studierenden zeigt allerdings, dass nur die wenigsten das Vertrauen haben, Vorkommnisse auch intern zu melden.

Ulrike Aichhorn war jahrelang Vorsitzende des AKG der Uni Salzburg. Sie berichtet von "vollen Schubläden" mit Fällen, die ihr anvertraut worden seien mit der Bitte zu schweigen. Das Problem sei vor allem, dass Betroffene nicht wüssten, was mit ihren Beschwerden passieren würde. Das Gesetz sieht auch kein konkretes Prozedere für Meldungen bei den Arbeitskreisen vor – jede Uni handhabe das etwas unterschiedlich.

"Nur ein sexy Outfit"

An der Universität Salzburg wurde etwa zusätzlich eine telefonische Hotline eingerichtet, bei der Betroffenen anonym und kostenlos von Psychotherapeutinnen beraten werden. Eine Einrichtung, die sich bewährte: Als im Sommersemester 2021 eine Jus-Studentin ihren Diplomarbeitsbetreuer kurz vor einer Besprechung per Whatsapp-Nachricht fragte, was sie zum Termin mitnehmen sollte, antwortete er: "nur ein sexy Outfit". Die damals 27-Jährige wandte sich an die Uni, die ihr die anonyme Hotline empfahl. Sie war die Erste, die den Professor wegen mutmaßlicher sexueller Belästigung gemeldet hat. Die Uni habe ihr zu verstehen gegeben, dass nur erfasste Fälle für etwaige Konsequenzen herangezogen werden könnten. Durch die Hotline bestärkt, wandte sie sich auch an die Studierendenvertretung, um weitere mutmaßliche Betroffene zu finden. 

Weil die diese aber keine Ressourcen gehabt habe, verfasste die Studentin einen öffentlichen Aufruf im Namen der Studierendenvertretung daraufhin selbst. Mehrere Medien griffen die Causa auf, weitere Vorfälle wurden keine gemeldet. Trotzdem kam es zu Konsequenzen: Der Rechtsprofessor entschuldigte sich, gestand gegenüber dem Rektorat eine Dienstpflichtverletzung ein und musste eine Geldbuße leisten. Zudem wurde er für ein Semester freigestellt und soll die Auflage erhalten haben, Therapiestunden zu absolvieren.

Während der Freistellung lief ein Verfahren vor der Bundesgleichbehandlungskommission, das die Studentin beantragt hatte. Rund sechs Monate dauerte es, bis diese feststellte, dass sie sexuell belästigt worden war (zu diesem Begriff siehe Wissenskasten). In ihrem Gutachten bekräftigte die Kommission aber auch, dass die Entschuldigung des Professors glaubhaft gewesen sei und die negativen Auswirkungen auf die Studentin "nicht sehr gravierend waren". Laut Vorlesungsverzeichnis ist der Professor jedenfalls seit 2022 wieder zurück im Hörsaal. Weder die Universität noch der Professor haben Fragen zum konkreten Fall beantwortet.

Ruf nach externer Stelle

Der Fall des Salzburger Jus-Professors, jener an der Wiener Medizinuni und die Debatte rund um das Max-Reinhardt-Seminar zeigen, dass viele Studierende den vorhandenen Uni-internen Stellen misstrauen. Die Bundes-ÖH fordert schon seit längerem die Einrichtung unabhängiger Anlaufstellen, die nicht direkt mit der Hochschule institutionell verbunden sind. Im Kultur- und Sportbereich gibt es seit vergangenem Jahr die externe Beratungsstelle Vera*, die von Machtmissbrauch Betroffenen offensteht. Das Modell ließe sich auch auf den Hochschulsektor übertragen, sagt Sophie Rendl von Vera*.

Ähnlich sieht das die Ex-AKG-Vorsitzende Aichhorn. Neben externen Stellen mit spezialisiertem Personal brauche es finanzielle Mittel für Betroffene, inklusive Therapieangebote. Es sei wichtig, dass Betroffene volles Vertrauen haben, wissen, was passiert, und nicht zwischen Stellen hin- und hergeschickt werden. Bei betriebsinternen Anlaufstellen sei ein solches Vertrauen aus Betroffenensicht offensichtlich nicht immer gegeben, zu augenscheinlich mögliche Interessenkonflikte.

Vielleicht haben sich auch aus diesem Grund die Studierenden des Max-Reinhardt-Seminars und der Medizinuniversität und die Salzburger Studentin mit ihren Bitten um Unterstützung den Weg an die Öffentlichkeit gesucht. Für die Unis jedenfalls ein denkbar schlechter Ausgang: Nichts schadet mehr als ein Kratzer in der Reputation einer Institution, die von ihrem guten Ruf lebt. (Theo Anders, Laurin Lorenz, 6.6.2023)