Rund um den Globus wurden bereits sieben von acht "sicheren und gerechten Grenzen des Erdsystems" überschritten. Für mindestens zwei dieser Grenzen trifft dies auch schon in weiten Teilen der Erde auch auf lokaler Ebene zu. Wichtige Systeme der Erde – das Klima, der Wasser-, der Nährstoffkreislauf, die Atmosphäre sowie die Artenvielfalt – leiden demnach gewissermaßen unter "ernsten Krankheiten", die allerdings noch nicht chronisch sind. Das sagte der Hauptautor einer neuen, im Fachjournal "Nature" veröffentlichten Studie, Johan Rockström, vor Journalisten. Ein Team aus mehr als 40 Forschern weltweit hat darin berechnet, in welchen Grenzen die Welt bleiben müsste, damit eine "Heilung" noch gelingen kann.

Die Menschheit gehe momentan ein sehr hohes Risiko ein, die Kapazitäten unseres Heimatplaneten derart überzubeanspruchen, dass gefährliche Kipppunkte erreicht werden, die negative Effekte verstärken und mehr oder weniger unaufhaltsam machen. Solche Punkte wären etwa ein starkes Tauen der Permafrostböden, die dann wiederum sehr viel zusätzliches Treibhausgas freisetzen würden, oder das Schmelzen großer Eismassen in Hochasien, auf Grönland oder in der Antarktis.

Blick auf die Erde, aufgenommen 1972 vom Bord der Apollo-16-Mission zum Mond. Einiges mag sich in den vergangenen 50 Jahren zum Besseren gewendet haben. In vielen Bereichen hat unsere Heimatwelt heute jedoch ihre Belastungsgrenzen erreicht.
Foto: imago images/Nasa

Definierte Grenzen

Das Forschungsteam um den Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) und Ko-Vorsitzenden der "Earth Commission" – einem wissenschaftlichen Zusammenschluss, dem unter anderen Caroline Zimm und Nebojsa Nakicenovic vom Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien angehören – hat in der neuen Arbeit Grenzwerte für acht Erdsysteme definiert. Innerhalb dieser Grenzen könnten die Erhaltung der Lebensgrundlagen und die Stabilität unseres Planeten sowie Sicherheit und Gerechtigkeit für die Menschheit einigermaßen gewährleistet bleiben. Diese beziehen sich auf das Klima, das Ausmaß an Gebieten mit weitgehend intakten natürlichen Ökosystemen, den Anteil an insgesamt noch nach natürlichen Abläufen funktionierenden Ökosystemen, die Oberflächenwasser- und Grundwassersysteme, den Stickstoff- und Phosphorkreislauf und die in der Atmosphäre befindlichen vom Menschen verursachten Schwebestoffe (Aerosole).

Einzig die Menge an letzteren liegt der neuen Analyse zufolge noch im Bereich der von den Wissenschaftern ausgewiesenen "sicheren und gerechten Grenzen". Allerdings würden in vielen Regionen der Welt Grenzwerte auch bereits deutlich überschritten – mit entsprechenden negativen gesundheitlichen Auswirkungen. An den jeweiligen Definitionen und Indikatoren für die Erd- und die sozioökonomischen Systeme arbeiteten auch Zimm und Nakicenovic mit.

Vor allem den Stickstoff- und Phosphorkreislauf sehen die Forscher durch menschliche Aktivitäten – allen voran das übermäßige Düngen in der Landwirtschaft – bereits weit außerhalb der Komfortzone des Planeten. Ebenso seien bereits sehr viele Oberflächen- und Grundwassersysteme etwa durch Wasserverbauungsmaßnahmen verändert worden. So sollte der Wasserstand der Oberflächengewässer nach dem Dafürhalten der Experten eigentlich nur um etwa 20 Prozent schwanken. Auf etwa einem Drittel der Landfläche werde das aber schon nicht mehr eingehalten. Außerdem werde auf fast der Hälfte der Fläche der Erde bereits mehr Grundwasser entnommen, als nachgebildet werden kann.

Weniger als die Hälfte der Erde naturbelassen

Im Bereich der Landnutzung sind Grenzen ebenso überschritten: So sollten zwischen 50 und 60 Prozent der Landflächen relativ naturbelassen bleiben. Mittlerweile gelte das aber nur mehr für 45 bis 50 Prozent, erklärte der Ökologe David Obura vom Forschungsinstitut Cordio-Ostafrika. Von Menschen genutzte Flächen sollten zudem 20 bis 25 Prozent natürliche Ökosysteme pro Quadratkilometer beinhalten. Erfüllt wird dies aber nur auf einem Drittel der vom Menschen beeinflussten Landfläche: "Wir sind unter dem definierten Schwellenwert", sagte Obura.

In Bezug auf das Klima sei eine Erderhitzung um 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau noch als einigermaßen "sicher" anzusehen. Als noch "gerecht" sehen Wissenschafter jedoch eine Erwärmung um maximal ein Grad an. Mit dem momentanen weltweiten Durchschnittsplus von 1,2 Grad Celsius sei diese Grenze bereits überschritten. Für Rockström ist die Welt hier an einem "gefährlichen Punkt". Man wolle mit der Arbeit auch zeigen, "dass selbst ein Grad mehr schon große Schäden mit sich bringt", sagte Joyeeta Gupta von der Universität Amsterdam: "Es wird schlimmer bei 1,5 oder zwei Grad." Dementsprechend müsse der CO2-Ausstoß "wirklich schnell reduziert werden", so der PIK-Chef.

Wichtige Gerechtigkeit

Insgesamt unterstreiche die Studie, dass vor allem eine gerechte Welt die beste Chance der Menschheit auf eine sichere Zukunft sei, erklärte Zimm. Das Ziel müsse sein, den Zugang zu wichtigen Ressourcen auf gerechte Art und Weise weltweit zu gewährleisten, während gleichzeitig Umweltgifte reduziert werden oder das Klima effektiv geschützt wird. Die Natur sei jedenfalls robust, Renaturierungsmaßnahmen könnten vielerorts Früchte tragen. Auch die politischen Rahmenbedingungen sind laut Obura oft gegeben, bei der Umsetzung hapere es aber ganz gewaltig. Klar sei: Es brauche Lebensstiländerungen und nicht nur den Verweis auf technische Lösungen.

Er denke, dass das Fenster "noch offen ist", um in die nun neu definierten Sicherheitsbereiche zurückzugehen, so Rockström. Dazu brauche es bei weitem nicht nur CO2-Reduktion, sondern auch das großflächige Aufrechterhalten von natürlichen Umgebungen, die als "Puffer" im Umgang mit Krisen dienen: "Wir können noch auf der richtigen Seite landen. Es braucht aber schnelles, kollektives Handeln." Mit der Analyse zeige man wissenschaftlich fundierte Belastungsgrenzen auf, "die eine gerechte Entwicklung hin zu mehr Wohlstand auf einem stabilen Planeten ermöglichen können", so Rockström. "Diese neuen Erkenntnisse können als Grundlage für die Entwicklung von wissenschaftlich begründeten Zielen dienen."

Ansatz mit Schwächen

Für den nicht an der Arbeit beteiligten Helmut Haberl vom Institut für soziale Ökologie der Universität für Bodenkultur (Boku) Wien ist das "Aufzeigen globaler ökologischer Grenzen" wichtig. Der Ansatz habe aber auch Schwächen, betonte er gegenüber dem deutschen Science Media Center (SMC). So beruhen die Gerechtigkeitskriterien "im Wesentlichen darauf, wie stark unterschiedliche soziale Gruppen von Umweltveränderungen betroffen sind. Das ist zweifellos eine sehr wichtige Frage, es trägt aber nur wenig dazu bei, Lösungen für die angesprochenen Probleme zu finden." Diese müssten jedenfalls "die schreienden Ungerechtigkeiten beim Zugang zu Ernährung, Wohnraum, Mobilität, sauberem Wasser und Hygiene, Gesundheitsversorgung oder Bildung in einer Weise auflösen oder zumindest verringern, welche die Grenzen des Erdsystems nicht sprengt", so Haberl. (red, APA, 31.5.2023)