Um die Küche Perus ist in den letzten Jahren ein Riesenhype entstanden. Gourmets aus der ganzen Welt schwärmen von ihrer Vielfalt (allein 4.000 Erdäpfelsorten gedeihen im drittgrößten Land Südamerikas) und Vielseitigkeit. Wir haben uns die Frage gestellt: Lässt sich ein Land mit einer 3.000 Kilometer langen Pazifikküste, mit fast 7.000 Meter hohen Andengipfeln und einem endlosen Dschungel an einem Nachmittag in seiner vollen kulinarischen Bandbreite erfassen?

Einen Versuch ist es wert. Also ab nach Lima, der Hauptstadt Perus, zu Vigilio Martínez (45) und dem Lokal Central, wo er seit seit 2008 kocht. Glaubt man der Rangliste "World's 50 Best", ist das Central das zweitbeste Restaurant der Welt. Hier tischt Martínez ein Menü auf, das den Besucher auf eine Reise durch Peru begleitet und alle Sinne fordert.

Moloch und Sehnsuchtsort

Die erste Herausforderung ist, sich in Lima zu orientieren. Die peruanische Hauptstadt breitet sich über eine trostlose Wüstenlandschaft zwischen Pazifik und den Ausläufern der Anden aus. Sie scheint unendlich, der Verkehr ist chaotisch, die sozialen Unterschiede bedrückend. Nach Lima kommt man aber nicht wegen historischer Architektur und entspannter Spaziergänge. Da gibt es nettere Orte in Peru – Cuzco zum Beispiel.

Golden Hour in Lima
Golden Hour in Lima.
Christian Eidherr

Die wahre Attraktion ist das Essen. Die Einwohnerinnen und Einwohner sind stolz darauf und verrückt danach. Im Essen spiegelt sich deren multikulturelle Geschichte wider, die in Restaurants, Märkten und anderen Lokalen an jeder Straßenecke ihren Ausdruck findet. Ceviche, die japanisch inspirierte Nikkei-Küche, chinesisch-peruanische Chifa-Küche, Rinderherzen vom Spieß als Snack zwischendurch und noch mehr Ceviche (La Mar!). In der Liste der 50 besten Restaurants der Welt sind allein drei aus Lima gelistet, genauso viele wie in Paris. Der Ruf als kulinarischer Sehnsuchtsort eilt Lima voraus und findet seinen Mittelpunkt im Central.

Eine Oase in Lima

In dieser modernen Villa befindet sich das zweitbeste Restaurant der Welt.
In dieser modernen Villa befindet sich das zweitbeste Restaurant der Welt.
Christian Eidherr
Auf dieser Steinplatte werden die Zutaten des Menüs präsentiert
Auf dieser Steinplatte werden die Zutaten des Menüs präsentiert.
Christian Eidherr
Es sind allerlei teils kurios anmutende Produkte.
Es sind allerlei teils kurios anmutende Produkte.
Christian Eidherr
Marmor und Holz prägen das Ambiente im Central.
Marmor und Holz prägen das Ambiente im Central.
Christian Eidherr

Das Central liegt im charmanten Viertel Barranco, das an der schroffen Pazifikküste thront und mit spektakulärem Meerblick, Bars (Juanito) und Bistros (Merito*) lockt. In einer von Platanen gesäumten Allee befindet sich hinter einer unscheinbaren Mauer das Central. Der Gast läutet an, wird vom Küchenpersonal abgeholt und durch einen prachtvollen Garten zwischen Gemüsebeeten und Bienenstöcken zu einer modernen Villa begleitet. Hinter der Eingangstür wird man an einem Steinblock empfangen, in dessen Einkerbungen getrocknete Zutaten der Küche präsentiert werden.

Obskur wirkende Knollen und Gebisse von Piranhas eröffnen einen ersten Eindruck vom Menü. Vorbei an der mit Glas verkleideten Küche, die sich wie ein Altar zum lichtdurchfluteten Speisesaal öffnet, schreitet man zu seinem Marmortisch und versinkt im ebenso durchdesignten wie gemütlichen Ambiente des Restaurants. Raumhohe Fenster umgeben den Raum in dem sich exotische Pflanzen und Bäume zwischen den weit entfernten Tischen befinden.

Mutter Erde

Vigilio Martínez – international ausgebildet, vielfach dekoriert – verschreibt sich in seiner Küchenphilosophie einer radikalen Regionalität. Im Central kann man aus vier Menüs zwischen zwölf und 14 Gängen wählen. Jeder Gang definiert ein Ökosystem Perus, das in Höhenmetern angegeben wird und die Zutaten geografisch determiniert. Alle Produkte stammen von Herstellern, die Martínez persönlich kennt. Den Grundstein für diese Küche legt die Mater Intiativa. Ein interdisziplinäres Team aus Köchen, Biologen sowie Anthropologen, das im Dialog mit der indigenen Bevölkerung längst vergessene Zutaten, Rezepte sowie Kochtechniken wieder entdeckt.

Von minus zehn auf 4.200 Meter

Die Speisekarte als Reiseführer durch die Landschaften Perus. Im Glas: Winzer Champagner (Blanc de Noirs von Serge Mathieu)
Die Speisekarte als Reiseführer durch die Landschaften Perus. Im Glas: Winzer-Champagner (Blanc de Noirs von Serge Mathieu).
Christian Eidherr

Und wie schmeckt's? Das zwölfgängige Signature-Menü "Territoria en Desnivel" reicht von minus zehn im Pazifik bis auf 4.100 Meter in den Anden. Als Europäer betritt man kulinarisches Neuland und wird mit Produkten konfrontiert, die geheimnisvolle Namen wie Loche, Kiwicha oder Tacu tragen.

Brotgang: Dehydrierte Früchte statt Brot, Sirup statt Butter
Brotgang: Dehydrierte Früchte statt Brot, Sirup statt Butter.
Christian Eidherr

Die Gerichte werden in Keramikschüsseln angerichtet, die ebenso wie das Besteck auf die Produkte abgestimmt sind und Elemente der jeweiligen Höhenlage beinhalten. Zu jedem Gang werden getrocknete Grundprodukte dargereicht, um optisch und haptisch zu begreifen, was da eigentlich in der Schüssel liegt. Es vermag nicht jeder Gang geschmacklich zu überzeugen. Zum Beispiel der "Brotgang", der aus dehydrierten Früchten und deren Sirup besteht. Hübsch anzusehen, nichtssagend im Geschmack. Oder ein Erdapfel, der nach alter Inkatradition in essbarer Asche gekocht wurde. Schmeckt dann doch nur wie – Überraschung – eine Kartoffel. Aber "der Geschmack ist nicht so wichtig wie die Geschichte, die Idee, die Emotion. Wenn ich Ihnen eine Idee serviere, und Sie denken darüber nach, dann ist das genauso toll wie der Geschmack", wie Martínez 2018 gegenüber dem STANDARD sagte.

Die Kartoffel, die nach Kartoffel schmeckt. Spannender ist da schon der Malbec aus Argentinien, der aus Reben vinifiziert wird, die auf 1.300 Metern Seehöhe wachsen. So saftig, würzig und kühl, wie ein Blaufränkisch vom Eisenberg. (PerSe: Inseparable Gualtallary 2019)
Die Kartoffel, die nach Kartoffel schmeckt. Spannender ist da schon der Malbec aus Argentinien, der aus Reben vinifiziert wird, die auf 1.300 Metern Seehöhe wachsen. So saftig, würzig und kühl wie ein Blaufränkisch vom Eisenberg. (PerSe: Inseparable Gualtallary 2019)
Christian Eidherr

Der Großteil der Gerichte verbindet jedoch Geschmack mit Geschichte und Tiefgang. Vier Gänge, die den Wahnwitz sowie die Kreativität des Central spiegeln und in nachhaltiger Erinnerung geblieben sind, verdienen eine nähere Betrachtung.

Black Rocks, 10 mbsl (meters below sea level): Yuyo Seaweed  Clams – Squid

Von minus zehn Metern im Pazifik auf den Tisch des Central.
Von minus zehn Metern im Pazifik auf den Tisch des Central.
Christian Eidherr

Das Menü beginnt am Grund des Pazifiks mit drei Häppchen aus drei Zutaten, die in verschiedene Aggregatzustände dekonstruiert werden. Rohe Schwertmuscheln, gebettet auf einer vollmundigen Mousse aus Algen und Muschelfleisch, erstrahlen in einem elektrisierenden Blau, das aus einer Algenreduktion resultiert. Tintenfisch, roh und al dente, versinkt in einer Creme aus Tintenfischfleisch, die sich dicht wie Mayonnaise an den Gaumen schmiegt und durch Tinte sowie Algensirup akzentuiert wird.

Elektrisierend blau: Schwertmuscheln und Algen
Elektrisierend blau: Schwertmuscheln und Algen.
Christian Eidherr

Jeder Löffel aus diesen Schüsseln schmeckt wie die Essenz der frischesten Meeresfrüchte, die man sich vorstellen kann, und eröffnet das Menü mit einem Umami-Schub, der ähnlich animierend wirkt wie ein Bad in der schäumenden Pazifikbrandung im Süden Perus. Als Beilage zeigen Teigbällchen aus dehydrierten Algen und Algencrackern, dass Seafood auch vegan sein kann.

Extreme Altitude, 4.200 masl (meters above sea level): Corns Kiwichas  Sweet potato leaf

Bunte Getreidevielfalt
Bunte Getreidevielfalt.
Christian Eidherr

Es geht hinauf in die Anden, wo auf Hochplateaus schon seit der Herrschaft der Inkas wilde Getreidearten und mehr als 50 Maissorten kultiviert werden. Die Vielfalt nahrhafter Kohlenhydrate war der Motor alter Hochkulturen und wird nun in einer "Müslischüssel" für Fortgeschrittene konzentriert. Mais wird zu einer lauwarmen, seidigen Creme verarbeitet und mit Amarant-Pops und knusprigen Blättern aus Süßkartoffeln angerichtet. Das ergibt Comfort-Food in satten Erdtönen, das wie eine Mischung aus Polenta mit -Cerealien schmeckt. Weckt Erinnerungen an eine Kindheit in den 1990er-Jahren, in denen jeder Morgen mit Smacks oder Frosties begann. Man könnte zehn dieser Schüsseln leeren und dabei in wohligen Erinnerungen schwelgen, obgleich man Zutaten vom anderen Ende der Welt vor sich hat.

Dry Valley, 55 masl: Shrimp  Loche squash  Avocado

Was verbirgt sich in diesem Kürbis?
Was verbirgt sich in diesem Kürbis?
Christian Eidherr
Fruchtfleisch und Süßwassergarnelen unter einem Hauch getrockneter Avocado.
... Fruchtfleisch und Süßwassergarnelen unter einem Hauch getrockneter Avocados.
Christian Eidherr

Hinab in den Süden Perus in das endlose Grau karger Ebenen: Auf einer Reise durch Peru ist es schwer zu glauben, dass sich aus Zutaten dieser Region ein vollmundiges Gericht kreieren lässt. Ein ausgehöhlter Kürbis wird mit einem warmen Püree aus dessen Fruchtfleisch sowie Süßwasser-Garnelen befüllt und einem Hauch getrockneter Avocados bedeckt. Das Gericht erinnert in Aufbau und Konsistenz an eine Crème brûlée. Jeder Löffel aus dem Kürbis entfaltet ein Geschmacksspektrum, das von süßsauer bis salzig reicht, und überrascht mit bissfesten, fleischigen Garnelenstücken, die auf den Gast wie kleine Schätze warten, die es herauszufischen gilt.

Amazonian Water, 190 masl: Pacu – Watermelon – Coca leaf

Bedrohlich wirkende Piranha Köpfe begleiten den beeindruckendsten Gang des Menüs.
Bedrohlich wirkende Piranha-Köpfe begleiten den beeindruckendsten Gang des Menüs.
Christian Eidherr

Etwa 60 Prozent der Fläche Perus sind vom Amazonas-Regenwald bedeckt. Heimat der größten Artenvielfalt des Planeten und eines Gerichts, das in ewiger Erinnerung bleibt. Gegrilltes Filet vom Pacu, einer Piranha-Gattung, die sich von herabfallendem Obst ernährt, schwimmt in einer Emulsion aus Kokosmilch und einem Extrakt aus Kokablättern. Darüber werden in handwerklicher Perfektion kreisrunde Scheiben von Wassermelone und Wassermelonen-Gelée geschichtet, die so hauchdünn sind wie das Zalto-Glas, in dem die Weinbegleitung ihren würdigen Rahmen findet. Der Fisch hat eine süße Note. Sie wird von der Emulsion konterkariert, die mit animierender Bitterkeit über den Gaumen tänzelt. Die Wassermelonen sorgen für Crunch und Frische.

Verblüffend, genial. Auch aufgrund einer Weinbegleitung, die den Nachhall des Gerichts in eine gefühlte Ewigkeit verlängert und eine weitere Dimension peruanischer Kulinarik eröffnet: Weine, die naturnah in der Wüste kultiviert und in der Amphore vinifiziert werden. (Bodega Murga, Amphora 2020)

Das zweitbeste Restaurant der Welt?

Nach vier Stunden, zwölf Gängen und ebenso vielen Achterln Wein verlässt man beschwingt und um eine Erfahrung reicher das Central. Man stellt sich die Frage, ob es nun das beste Essen war, das man je hatte. Die Antwort ist zu subjektiv, zu vermessen, um der Idee und den Bemühungen des Central gerecht zu werden. Das Restaurant hat nicht nur seine Anerkennung erlangt, weil man dort so gut essen kann, sondern weil es neue Möglichkeiten eröffnet, den Gaumen des Gastes im besten Sinne fordert. Längst vergessene Produkte und alte Küchentraditionen werden wiederentdeckt und mit avantgardistischen Küchentechniken in die Gegenwart übersetzt. Damit eröffnet das Central eine Bühne für die Biodiversität und die Geschichte Perus. Es bildet Köche aus, die später ihre eigenen Lokale eröffnen, neue kreative Inputs liefern und Peru auf der Landkarte der spannendsten kulinarischen Destinationen weiter verankern. Das Central in Lima ist damit gewiss eines der wichtigsten Restaurants der Welt. (Christian Eidherr, 1.6.2023)