Wolf Wittenfeld aus Istanbul

In einem am Donnerstag erschienenen Interview auf der Internetplattform "Artı Gerçek" hat der frühere Co-Chef der kurdisch-linken HDP, Selahattin Demirtaş, angekündigt, sich aus der Politik zurückzuziehen. Demirtaş wurde im Oktober 2016 als damaliger Co-Vorsitzender der HDP verhaftet und sitzt seither in einem Gefängnis im Westen der Türkei nahe der bulgarischen Grenze.

Der inhaftierte Selahattin Demirtaş wird von vielen Anhängern unterstützt.
REUTERS/Umit Bektas/File Photo

Trotz seiner Gefangenschaft hatte er immer wieder aus dem Gefängnis politisch interveniert. Durch schriftlich geführte Interviews, durch Briefe und durch Mitteilungen, die er über seine Anwälte der Öffentlichkeit zugänglich machte, hatte er versucht, am Diskussionsprozess innerhalb der HDP und der türkischen Linken insgesamt weiterhin teilzunehmen.

Kehrtwende nach der Wahl

Auf die Frage des "Spiegel" in einem Interview vor den Wahlen, ob er nach einem Sieg der Opposition beabsichtige, wieder in die Politik zu gehen, antwortete er noch: "Ich war nie aus der Politik raus." Jetzt will der mit Abstand populärste Politiker der HDP aber nicht mehr weitermachen. In dem Interview mit "Artı Gerçek" kritisiert er die aktuelle Parteiführung, die seiner Meinung nach im Wahlkampf eine schlechte Performance gezeigt hat.

Das linke Bündnis mit anderen türkischen sozialistischen Parteien sei nicht mit Leben gefüllt und die Basis der HDP zu wenig in die Entscheidungen der Partei einbezogen worden. Die HDP brauche jetzt eine grundsätzliche Erneuerung.

Es mag sein, dass der neuerliche Sieg Recep Tayyip Erdoğans und Demirtaşs somit fortdauernde Haft zu der Entscheidung, sich aus der Tagespolitik zurückzuziehen, beigetragen haben. Ausschlaggebend ist aber wohl sein anhaltender Dissens mit der aktuellen Parteiführung der HDP. Selahattin Demirtaş, der Anwalt aus Diyarbakır, steht und stand für eine Öffnung der kurdischen HDP aus dem ethnischen Lager hin zu einer allgemeinen linken Partei der Türkei.

Mageres Wahlergebnis

Demirtaş ist überzeugt davon, dass nur so eine politische Lösung der Kurdenfrage in der Türkei möglich ist. Nach seiner Festnahme und einem weiter zunehmenden Repressionsdruck auf die Partei hat die HDP-Führung allerdings mehr und mehr den Rückzug ins ethnische Lager angetreten. Die Quittung dafür war das magere Wahlergebnis von 8,8 Prozent bei der Parlamentswahl am 14. Mai. Zu Demirtaşs Zeiten bekam die HDP mehr als 13 Prozent.

Der Kurs der HDP-Führung um Pervin Buldan und Mithat Sancar hat auch die mit der HDP verbündeten türkischen linken Parteien frustriert. Yeşil Sol, die Gruppe, in deren Namen die HDP wegen des drohenden Parteiverbots bei den Wahlen kandidiert hat, fühlte sich bei der Listenaufstellung der Kandidaten für die Parlamentswahl völlig übergangen und will jetzt intern diskutieren, wie es weitergehen soll. Die Türkische Arbeiterpartei (TIP) und deren populärer junger Vorsitzender Erkan Baş hatten es gleich vorgezogen, auf eigenen Listen zu kandidieren, statt sich bei der HDP / Yeşil Sol einzureihen.

Kılıçdaroğlu macht weiter

Zu all diesen Verwerfungen kommt noch, dass das Verbotsverfahren gegen die HDP ja keineswegs zu Ende ist. Wird die Partei in den nächsten Wochen tatsächlich verboten, droht auch ihrem gesamten derzeitigen Führungspersonal ein jahrelanges Politikverbot.  

Verglichen mit den Debatten innerhalb der HDP und der türkischen Linken ist es in der Oppositionskoalition mit ihrem gescheiterten Kandidaten Kemal Kılıçdaroğlu noch ziemlich ruhig. Kılıçdaroğlu selbst hat trotz der Niederlage angedeutet, dass er als Vorsitzender der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, der größten Partei des Oppositionsbündnisses, gerne weitermachen möchte. Auch von den Vorsitzenden der anderen fünf am Bündnis beteiligten Parteien hat bislang niemand einen Rückzug angekündigt. (Wolf Wittenfeld aus Istanbul, 1.6.2023)