Während Krisen und Kriegen sind vor allem Frauen, Kinder und Jugendliche extrem gefährdet, ausgebeutet zu werden. Und das Risiko stieg auch mit Beginn des Ukrainekriegs für Flüchtende aus der Ukraine. Andrea Salvoni, Vize-Koordinator der OSZE für die Bekämpfung von Menschenhandel, erklärt, wie Menschenhändler heutzutage vorgehen und was man dagegen tun kann. Er befürchtet einen Anstieg der Fälle innerhalb der kommenden Monate.

STANDARD: Zu Beginn des Ukrainekriegs gab es Warnungen vor Menschenhandel mit Flüchtlingen. Sozialarbeiter bemerkten zumindest keinen markanten Anstieg. Was stimmt?

Salvoni: In der Tat gibt es wenige registrierte Fälle in Westeuropa. Und in den meisten Fällen dreht es sich um Arbeitsausbeutung. Aber: Was wir sehen, ist ein toxisches Umfeld. Wir haben eine rapide Veränderung bei Internetsuchbegriffen registriert: etwa "Ukraine refugee porn" oder "Ukraine escort". Das sehen wir auch in einschlägigen Blogs. Eine gestiegene Nachfrage schafft einen Markt. Wir haben Chats verfolgt und zwischen Anzeigen für legitime Jobs und Unterbringung zahllose Versuche entdeckt, Frauen für die Sexarbeit zu rekrutieren.

Vielfach bleibt Ausbeutung von Menschen im Dunkeln. Menschenhandel ist heute ein Problem von Ungleichheit in unseren Gesellschaften und von administrativen Lücken, sagt Andrea Salvoni.
EPA/Filip Singer

STANDARD: Wie lässt sich das unterscheiden?

Salvoni: Viele dieser Anzeigen sind praktisch Lehrbeispiele. Das sind Anzeigen mit Inhalten wie "Willst du Geld verdienen, ohne viel zu tun" oder "Willst du dich vor der Kamera zeigen". Einige dieser Annoncen zielen gezielt auf Minderjährige ab. Also: Wir haben eine wachsende Nachfrage, und wir haben die Reaktion in Form von verstärkten Versuchen, Frauen zu rekrutieren. Was uns fehlt, sind die Fälle. Auch hier ein Aber: Nach Beginn des Krieges im Donbass 2014 gab es eine kleine Fluchtwelle. Rund 50.000 bis 55.000 Menschen. Laut UNODC hat sich die Zahl der Fälle von Menschenhandel in Folge dieser Welle vervierfacht. Wenn man sich das vor Augen führt, kann man ahnen, was eine Fluchtwelle von acht Million mit sich bringt. Ich denke, dass die Zahl der dokumentierten Fälle in den kommenden Monaten durch die Decke gehen wird.

STANDARD: Andererseits sind die rechtlichen Rahmenbedingungen bei dieser Fluchtwelle ganz andere als 2014. Stichwort: Zugang zu Arbeitsmarkt, Zugang zu Sozialleistungen für Geflohene aus der Ukraine.

Salvoni: Da ist ein großer Graubereich. Und Opfer von Menschenhandel gehen nicht in eine Polizeistation und sagen: "Guten Tag, ich bin ein Opfer von Menschenhandel." Wir müssen in allen möglichen Sektoren suchen, nicht nur in der Sexarbeit. Auch in der Reinigungsbranche oder in der Landwirtschaft. Zu sagen, es gibt keine Fälle, ist kein Argument. Wir suchen nur nicht aktiv genug. Und: Zugang zum Arbeitsmarkt bedeutet nicht, dass man auch einen Job findet. Jetzt beginnen die Menschen aus der Ukraine aber zu realisieren, dass sie länger bleiben werden und Geld verdienen müssen. Und da reden wir (wegen der Ausreisesperre für Männer, Anm.) hauptsächlich von Frauen, die allein hier sind oder mit Kindern. Der Arbeitsmarkt ist ein hartes Pflaster für Frauen und vor allem für alleinerziehende Frauen. Genau da setzen Menschenhändler an.

STANDARD: Was lässt sich dagegen tun?

Salvoni: Es geht vor allem darum, Menschenhandel weniger profitabel zu machen – und komplizierter. Das Mandat von Arbeitsinspektoren muss ausgeweitet werden. Wir müssen sicherstellen, dass sie breiter beobachten und auch ermitteln können. Sie müssen wissen, wie Ausbeutung aussieht und wer die Opfer sind. Wir müssen uns aber auch den Medien widmen, die dazu dienen, sexuelle Ausbeutung zu erleichtern. Meistens passiert das online. Und es gibt absolut keine Regulierungen. Wir müssen Onlineplattformen verantwortlich für ihren Inhalt machen – also sowohl soziale Medien oder Jobplattformen, über die die Anbahnung passiert, als auch explizite Plattformen wie Porno- oder Datingseiten. Was es zum Beispiel braucht, ist ein Mechanismus, über den klar wird, dass die Person zugestimmt hat und alt genug ist.

STANDARD: Aber wie Sie gesagt haben: Nachfrage schafft Wege – und eben auch illegale.

Salvoni: Daher müssen wir eben auch an der Nachfrage etwas ändern. Man kann den Erwerb von Sex generell verbieten. Oder man kann abstufen: Wenn ein Mann etwa mit einem Opfer von Menschenhandel bezahlte sexuelle Handlungen setzt, eben auch ihn ahnden. Bisher ist es in den meisten Staaten so, dass das Gericht nachweisen muss, dass der Freier wusste, dass er es mit einem Opfer von Menschenhandel zu tun hat. Für das Opfer einer solchen Handlung, spielt das aber keine Rolle. Es gibt viele Argumente für konsensorientierte Prostitution. Aber Fakt ist: In der Prostitution finden sich sehr viele Angehörige sozialer Risikogruppen. Da sollten wir uns Fragen: Wieso? Menschenhandel ist heute ein Problem von Ungleichheit in unseren Gesellschaften und von administrativen Lücken.

Andrea Salvoni (35) ist stellvertretender Koordinator der OSZE für die Bekämpfung von Menschenhandel.

STANDARD: In Österreich gibt es eine große, alteingesessene, sehr gut vernetzte ukrainische Gemeinde. Und solche Communitys gibt es überall in Europa. Das bietet doch Chancen?

Salvoni: Communitys können eine Brücke sein. Und unsere Empfehlung ist genau das: die bestehende Diaspora als Hebel zu nutzen. Also was Sprachbarrieren angeht, aber auch was die Fähigkeiten von Ankommenden angeht, die es braucht, um eine Krise wie diese zu bewältigen – Pädagogen, Lehrer, Psychologen. Aber diese Einbindung ist nur zu einem geringen Teil passiert. Es ist fein, wenn man Hotlines installiert, wo Opfer in ihrer Muttersprache sprechen können. Aber das ist nicht genug. (Stefan Schocher, 2.6.2023)