Franz Schuh
Franz Schuh kritisiert die Zustände am Max-Reinhardt-Seminar.
Heribert Corn

Anfang der Woche erreichte den STANDARD ein kurzer Leserbrief des heimischen Essayisten Franz Schuh zur Causa Maria Happel: Studierende des Max-Reinhardt-Instituts hatten bekanntlich in einem offenen Brief den Rücktritt der Direktorin und ihrer Stellvertreterin gefordert. Ihre Vorwürfe: Happel sei ob ihrer Dreifachbelastung am Burgtheater, in Reichenau und am Reinhardt-Institut kaum am Seminar anzutreffen, mehrfach seien zudem Grenzen überschritten worden. Schuh bezeichnete den Streitfall als "Beleg für die eingespielte Verkommenheit der österreichischen Kulturszene" und konstatierte einen "Niedergang des Reinhardt-Seminars". Wir wurden neugierig und trafen den Intellektuellen zum ausführlichen Gespräch in seiner Wiener Wohnung. Schuh hat mehrere Jahre am Reinhardt-Seminar unterrichtet (von 2010 - 2020).

STANDARD: Mit welchen Gedanken verfolgen Sie die Zerwürfnisse am Reinhard-Seminar?

Schuh: Was dort geschieht, reiht sich in die Geschehnisse in diesem Land ein: Auf dem langen Marsch in die Dritte Republik zeigen die eingebürgerten Institutionen Zerfallserscheinungen – am schlimmsten sind sie in der Passionsgeschichte der Sozialdemokratie. Deren Akteure versuchen die "Krise" – genauso wie die Direktorin des Reinhardt-Seminars – "als Chance" zu verkaufen. Die Leute können aber nicht mehr miteinander. Die Szene wird zu einem Schlachtfeld, auf dem der verlogene Ruf nach dem "Miteinander" erschallt.

STANDARD: Dass Studierende gegen eine Professorin revoltieren, kommt öfters vor. Warum sprechen Sie von Zerfallserscheinung?

Schuh: Auch wenn es einmal Zeiten gab, in denen Studenten den Unterricht verunmöglichten, indem sie Professoren das Recht zum Sprechen absprachen – das ist lange vorüber. Das Reinhardt-Seminar ist dagegen eine brave, "tragende" Kulturinstitution, in erster Linie für seine Selbstfeiern und für einige Einzelleistungen bekannt. Wenn eine Institution mit einer solchen Historie in eine solche Krise gerät, zelebrieren die Streitereien – wie in der Sozialdemokratie – auch einen unentrinnbaren Selbstzweck: der Streit als Entspannung vom unerträglichen Druck.

STANDARD: Maria Happel stellt die Zerwürfnisse als Generationenkonflikt dar: "woke" Studierende gegen eine in einer anderen Zeit sozialisierte Institutsleitung.

Schuh: Generationskonflikte gibt es, und zugleich bieten sie eine klassische Ausrede: Der Konflikt entsteht aus Gründen, die mit mir als Mitglied einer übergreifenden Gemeinschaft, "der Generation", nur indirekt zu tun haben. Dadurch verdeckt man, dass man höchstselbst den Konflikt verkörpert. Happel sagt, dass man im Unterricht mit Grenzen arbeite, "die auch überschritten werden". Das ist eine geniale Mischung aus Branchenzynismus und Idealismus, die dem biblischen Diktum folgt: Wer seinen Sohn liebhat, der züchtigt ihn beizeiten.

Maria Happel
Maria Happel leitet das Max-Reinhardt-Seminar.
APA/GEORG HOCHMUTH

STANDARD: Ist das nicht der Common Sense der Schauspielausbildung? Erst muss der Student "gebrochen" werden, dann arbeitet man an und mit ihm.

Schuh: Das ist die Ideologie der Theaterkönige. Sie ist ungefährlich, wenn der auserwählte Zögling mitspielt, weil er das System durchschaut. Aber falls nicht, entsteht ein kommunikativer Knoten: Du wirst schlecht behandelt, weil es gut für dich ist!

STANDARD: Bei Max Reinhardt heißt es: "Raunzen Sie nicht über den Drill in der Kunst, über die Einschränkung der Genialität." Dieser Satz wurde lange in den Statuten der Schule zitiert und scheint auch heute noch zu gelten.

Schuh: Das ist das Ballett-Syndrom: Der Drill ist bei diesem Beruf unvermeidlich. Die Unvermeidlichkeit räumt aber den Ausbildnern die Chance ein, ihre Zöglinge bloß schlecht zu behandeln, ohne ihnen etwas beizubringen. Der Branchenzynismus, der zur Werktätigkeit des Schauspielers zu gehören scheint, wird relativiert, und er wird anderseits zum Ideal hochgelogen.

STANDARD: Sie haben selbst einige Jahre am Reinhardt-Seminar unterrichtet. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Schuh: Zum Beispiel eine grandiose Rollenerarbeitung durch Roland Koch. Um so etwas zu ermöglichen, sind bürokratische Voraussetzungen notwendig. Die feministische Tarnung der Direktorin, "dass man immer noch sagt, dass Frauen nicht drei Jobs haben dürfen!" (dass frau also ein Opfer der Kritik ist), ist ein Schmäh. Es ist offenkundig, dass bei ihren drei Jobs für das Reinhardt-Seminar kaum Zeit bleibt. Happel gibt das selbst zu, indem sie sagt, dass sie am Burgtheater demnächst keiner Premiere mehr zur Verfügung steht. Also wusste sie, dass sie zu wenig Zeit für das Seminar hat, und damit ist sie, obwohl halbwegs berühmt, die falsche Besetzung.

STANDARD: Gerade Prominenz verschafft Studierenden Zugang zu Netzwerken, die sie sonst nicht erhalten würden. An Kunstuniversitäten ist das gang und gäbe.

Schuh: Das Problem liegt in der eingebürgerten Verkommenheit des österreichischen Kulturbetriebs: Man ist prominent, gut vernetzt, da und dort Liebkind, man badet in der Wärme der Kultur. Gemieden wird die Härte der  Entscheidungen – vor allem solcher, die einen selbst betreffen. Wenn die Direktorin sagt, dass die Vorwürfe "überraschend" kamen, dann hat sie ahnungslos die Heimeligkeit genossen: "Das bin doch nicht ich!", sagt sie. Wie geht das, wenn man an der Sache dran ist? Diese verwaschene Prominenz und die Liebkinderei ermöglicht es, dass es viel zu wenig Skepsis bei dieser Art von Postenbesetzung gibt. Bei Happel hätte man ihre Zeitlosigkeit von Anfang an sehen können.

STANDARD: Es gab in den vergangenen Jahren immer wieder reinigende Gewitter in der heimischen Kulturlandschaft. Warum brechen ständig neue Konflikte auf?

Schuh: Die Vergangenheit vergeht – bei allen Fortschritten – nicht, auch wenn sie als unwillkommen in der Gegenwart charakterisiert wird. Als Besucher einer Kulturveranstaltung schrieb Günther Anders in den Fünfzigerjahren: "Denn nicht das Zerstörte ängstigt, sondern das Gebliebene."

STANDARD: Wie kann es jetzt am Seminar weitergehen?

Schuh: Entweder man sucht, wie Frau Happel es wünscht, einen hausfremden Moderator, oder Frau Happel tritt zurück, und man bestellt eine neue Crew.

STANDARD: Viele Stimmen geben den innerösterreichischen Bestellungen der vergangenen Jahre Schuld an der Situation. Würde eine internationale Bestellung helfen?

Schuh: In der richtigen Position hierzulande können sich auch Österreicherinnen und Österreicher internationalisieren. Der Ruf nach dem Internationalen, da sollte man vorsichtig sein, ist nicht selten selbst ein Merkmal der Provinzialität. (Stephan Hilpold, 2.6.2023)