Stefan Brändle aus Paris

Der Krieg in der Ukraine hat die Situation in Europa grundlegend verändert. Kiew kämpft bei seiner kommenden Gegenoffensive auch darum, die Unterstützung des Westens nicht zu verlieren – und der Einsatz ist dabei groß, sagt der bekannteste Sicherheits- und Militärexperte Frankreichs, François Heisbourg, zum STANDARD. Gelingt Kiew das Manöver nämlich, könnte Wladimir Putin zum Verhandeln gedrängt und China von künftigen Militärabenteuern, etwa in Taiwan, abgeschreckt sein. Österreich, findet Heisbourg, muss sich vor diesem Hintergrund mit der Frage der eigenen Neutralität neu auseinandersetzen.

STANDARD: Die Ukraine startet derzeit Angriffe auf Ziele auch hinter der russischen Grenze. Beginnt gerade die angekündigte Offensive mit dem "Shaping", der Geländevorbereitung durch die Artillerie und andere Operationen?

Heisbourg: Sicher ist: Die Ukrainer verhalten sich so, als wollten sie eine Großoffensive lancieren. Sabotage von Eisenbahnlinien, Angriffe auf Treibstofflager, Partisanenoperationen wie die in der Region Belgorod – all das bereitet die Offensive vor. Mich erinnert es an das, was die Sowjets und die Deutschen im Zweiten Weltkrieg auf teilweise denselben Schlachtfeldern praktizierten. In den letzten zwei Monaten hat es in der Ostukraine zahlreiche solcher Operationen gegeben. Viele gelangen nie in die Medien.

Steategie- und Militärexperte François Heisbourg.
François Heisbourg gilt als einer der angesehensten französischen Sicherheitsexperten.
EPA/Chasialis

STANDARD: Worum geht es den Ukrainern mit ihrer Offensive?

Heisbourg: Sie wollen die Situation zu Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 wiederherstellen oder das russische Festland von der Krim abschneiden. Die Russen verwenden deshalb viel Energie darauf, die Halbinsel mit Raketen, Befestigungen und Panzergräben zu sichern. Auch das kommt mir wie ein Remake der Schlacht um Kursk im Jahr 1943 vor. Der Einsatz ist gewaltig.

STANDARD: Hätte ein Erfolg der Offensive Konsequenzen über die Gebietsgewinne hinaus?

Heisbourg: Ja, und zwar doppelt. Zum einen wäre Wladimir Putin gezwungen zu verhandeln. Dabei müsste er sich die Frage stellen, ob er lieber die Krim behalten oder ob er den Beitritt der Ukraine zur Nato verhindern will. Wenn er den Krieg verliert, wird er auf eines dieser Ziele verzichten müssen. Und ich denke, er würde es vorziehen, die Krim zu behalten und dafür die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine zu dulden.

STANDARD: Und was passiert, wenn die Offensive misslingt?

Heisbourg: Scheitert sie oder findet sie gar nicht statt, wird es für Kiew äußerst schwierig. Russland würde weiter ein Sechstel des ukrainischen Territoriums besetzen und müsste sich nicht an den Verhandlungstisch setzen. Der Westen würde sich fragen, ob er die Ukraine weiterhin aufrüsten soll. Mit Folgen für die Stimmung in den USA, wo im November 2024 Wahlen stattfinden werden.

STANDARD: Wobei Moskau voll auf Donald Trump setzt ...

Heisbourg: Dessen Wahlsieg würde in der Ukraine alles ändern. Donald Trump hat keine Sympathien für die Ukraine, und er sieht keine US-Interessen involviert. Deshalb sagte er, er würde das Ukraine-Problem an einem Tag lösen. Das würde auf einen Dirty Deal, ein schmutziges Geschäft mit Putin hinauslaufen.

STANDARD: In Ihrem letzten Buch über die Lehren eines Krieges schreiben Sie, dass dieser Krieg mit dem Sieg der einen Seite und der Niederlage der anderen Seite enden muss. Ist dazwischen nichts möglich?

Heisbourg: Die Ziele der beiden Seiten sind so konträr, dass es nicht anders gehen wird: Es muss einen Sieger geben, der seine Kriegsziele erreicht, und einen Verlierer. Die Ukraine will die territoriale Integrität wiedererlangen, dazu ihre Souveränität und Sicherheit. Das russische Kriegsziel ist imperial und kolonial, will doch Putin schlichtweg die Ukraine absorbieren und zum Verschwinden bringen. Eine Seite muss gewinnen, eine verlieren.

Violinist vor Rekrutierungsposter in der Metro St. Petersburg.
Der Krieg im Zentrum: Vor dem Rekrutierungsposter in der St. Petersburger Metro wird Violine gespielt.
APA/AFP/NATALIA KOLESNIKOVA

STANDARD: Könnte Russland eine Niederlage überhaupt akzeptieren?

Heisbourg: Deutschland brauchte dazu Jahrzehnte und eine gründliche Arbeit. Russland scheint dazu nicht bereit. Das gilt nicht nur für Putin, sondern die gesamte Bevölkerung, die von der Propaganda manipuliert ist. Das Ende eines Imperiums zu akzeptieren ist sehr kompliziert, sehr schwierig.

STANDARD: Würde China zudem nicht alles unternehmen, um eine russische Niederlage und damit den Triumph der Amerikaner zu verhindern ?

Heisbourg: Nicht alles. Gewiss, der Sturz des Putinismus und die Einführung der Demokratie in Russland liegen nicht im Interesse Chinas. Aber nicht zu vergessen: Der chinesische Präsident Xi Jinping hat die Annexion der Krim nicht abgesegnet.

STANDARD: Sie sagten, Europa müsse sich "engagieren, um zu gewinnen". Was meinen Sie damit konkret?

Heisbourg: Abgesehen von der Lieferung von Kampfflugzeugen geht es auch um die Erhöhung der Verteidigungshaushalte. Und dies über den Tag hinaus, an dem in der Ukraine Frieden herrscht. Was wird Russland in zehn Jahren tun, was wird China in 20 Jahren tun? Wie wird sich die Türkei verhalten? Heute kehrt die Einsicht zurück, dass Kriege zum Verhaltensspektrum einzelner Staaten gehören. Wir müssen uns damit abfinden: Die Friedenszeit nach dem Kalten Krieg ist vorbei.

STANDARD: Ist die Neutralität von Ländern wie Österreich in der Ukraine-Frage noch angebracht?

Heisbourg: Österreich hat eine Neutralität mit Wurzeln, die bis zum Vertrag vom Belvedere im Jahr 1955 (Staatsvertrag, Anm.) zurückreichen. Das ist nicht nichts. Aber Österreich ist in der Europäischen Union, und wenn man in einer solchen Organisation ist, hat man die Verträge unterschrieben – und diese Verträge sind klar. Der Krieg hat auch die Art und Weise verändert, wie die Union ist. Kurz, ich denke, dass die Österreicher eine ernsthafte Diskussion darüber führen müssen, was es bedeutet, ein Mitglied der Europäischen Union zu sein. Das ist eine Diskussion, die die Finnen und Schweden geführt haben. (Stefan Brändle, 5.6.2023)