Reiner Wandler aus Madrid

Der Schrecken der Gewässer vor der britischen Kronkolonie Gibraltar hat einen Namen: Gladys. Die Orca-Dame führt eine Gruppe von Artgenossen an, die in den letzten Monaten über 50-mal Boote und kleinere Schiffe angegriffen hat. Zwölfmal wurden die Gefährte beschädigt. Am 4. Mai traf es das Schweizer Segelboot Champagne so schwer, dass es unterging.

Fast alle angegriffenen Schiffe sind Segelschiffe. Die Schwertwale zerstören das Ruder und machen das Schiff damit manövrierunfähig. An der Besatzung scheinen die Wale kein Interesse zu haben. Selbst in den Fällen, in denen die Besatzung auf Rettungsboote umsteigen musste, griffen die Orcas diese nicht an.

Orca Angriff Segelboot Champagne
Das aufgrund eines Orca-Angriffs gesunkene Segelboot Champagne wurde geborgen und soll wieder repariert werden.
APA/AFP/JORGE GUERRERO

Stellt sich die Frage, warum die Gruppe unter Führung von Gladys Schiffe angreift. Einige Forscher – unter ihnen die Arbeitsgruppe Atlantische Orcas der spanischen Walgesellschaft – gehen davon aus, dass die Orcas einfach spielen. Als Beweis dafür führen sie an, dass die Tiere nicht aggressiv im eigentlichen Sinn seien, sondern sich ruhig den Booten nähern und dann das Ruder auszuhebeln versuchen, bis es kaputt geht. "Ihr Verhalten hat nichts mit dem zu tun, das sie zeigen, wenn sie zum Beispiel jagen", sagt Sprecher Alfredo López.

Unfall als Auslöser?

Forscher an der schottischen Universität St. Andrews haben eine weitere mögliche Erklärung. So soll Gladys im Mai 2020 von einem Boot angefahren und vom Ruder verletzt worden sein. Seither kommt es immer wieder zu Zwischenfällen mit Orca-Gruppen. Der erste Angriff auf ein Boot fand im Juli 2020 statt, danach nehmen die Zwischenfälle ständig zu. Alleine im heurigen Mai sollen es 20 gewesen sein.

Da Orcas soziale, hochintelligente Wesen sind, gehen die Wissenschafter davon aus, dass der Rest der Gruppe dieses Verhalten von Gladys erlernt hat. "Es gibt Berichte darüber, dass einzelne Orcas und Orca-Gruppen eigenwillige Gewohnheiten entwickeln", erklärt Luke Rendell von der St.-Andrews-Universität. Diese reichten von einer Gruppe, die sich auf eine scheinbar kurzfristige Modeerscheinung einlässt und tote Lachse auf dem Kopf trägt, bis hin zu einer anderen, die lautstark Seelöwen nachahmt.

Rechtzeitig den Orcas ausweichen

Das spanische Umweltministerium versucht gemeinsam mit der spanischen Walgesellschaft einige der Schwertwale mit GPS-Sendern zu bestücken, um so jederzeit kontrollieren zu können, wo sie sich gerade aufhalten. Da sich die Angriffe auf ein relativ kleines Gebiet in den Gewässern der Meerenge von Gibraltar beschränken, soll es durch die GPS-Daten möglich werden, den Orcas rechtzeitig auszuweichen. Die meisten Angriffe finden im Frühjahr und Frühsommer statt, wenn die Orcas in tiefen Gewässern auf die Ankunft des roten Thunfischs warten – ihrer Hauptnahrungsquelle.

Orca Schwertwale
Schwertwale oder Orcas werden auch gerne als Killer- oder Mörderwale bezeichnet.
AP/Elaine Thompson

In der Meerenge von Gibraltar leben um die 60 Orcas. Die Schwertwale werden auch gerne Killer- oder Mörderwale genannt, weil sie Jagd auf Robben oder kleinere Wale machen. Sie sind vom Aussterben bedroht, denn es gibt immer weniger roten Thunfisch. Dieser wird seit Jahren überfischt. Der rote Thunfisch gilt vor allem in Japan als Delikatesse – der Kilopreis liegt bei über 1.000 Euro. (Reiner Wandler aus Madrid, 2.6.2023)