Literaturnobelpreisträger J.M. Coetzee
John Maxwell Coetzee
P. Matsas/Opale/Leemage/laif

Als John Maxwell Coetzee 2003 den Nobelpreis für Literatur erhielt, war er erst der Vierte der südlichen Hemisphäre, dem diese Ehre zuteilwurde. Inzwischen ist mit dem Tansanier Abdulrazak Gurnah ein Fünfter hinzugekommen, was bei 115 Literaturnobelpreisträgern (davon 17 Frauen) immer noch eine verschwindende Minderheit darstellt. Der Südafrikaner Coetzee, der seit 2002 in Australien lebt, hat sich deshalb der Emanzipation der Literaturen des Südens verschrieben. Warum immer den Umweg über die Nordhalbkugel nehmen, fragte er sich und veröffentlichte 2022 seinen jüngsten Roman Der Pole in einem kleinen argentinischen Verlag. Coetzee, der Spanisch versteht und lesen kann, arbeitete eng mit der Übersetzerin Mariana Dimópulos zusammen und behauptet, die spanische Version sei genauso ein Original wie die englische, die erst im Herbst bei Liveright in New York erscheinen wird.

Bereits jetzt liegt Der Pole auf Deutsch vor und ist trotz aller Bemühungen des Autors, die kulturellen Zentren der nördlichen Hemisphäre zu umgehen, ein durch und durch europäischer Roman geworden: Der alte polnische Konzertpianist Witold, berühmt für seine kargen Chopin-Interpretationen, verliebt sich in Beatriz, eine katalanische Bankiersgattin in den Vierzigern, die Konzerte für einen guten Zweck mitorganisiert.

Sachlich ins Bett einladen

Doch der Auftritt des Polen in der Sala Mompou im Barrio Gótico von Barcelona beeindruckt Beatriz nicht, selbst die dem Namensgeber des Saals gewidmete Zugabe lässt sie seltsam kalt. Frederic Mompou ist bekannt für seine kurzen Stücke, in denen sich expressive Akkorde mit meditativen Pausen abwechseln. Auch in Coetzees Kurzroman wechseln sich Akkorde und Pausen ab, hier in Form von nummerierten Textblöcken und den Lücken der Absätze dazwischen. Und auch das lässt einen seltsam kalt. Doch so wie Beatriz, ohne selbst recht zu wissen, warum, dem verhaltenen Werben des polnischen Pianisten nachgibt und ihn schließlich ganz sachlich in ihr Bett einlädt, was trotz der großen Verliebtheit des über siebzigjährigen Polen zu einer der unromantischsten Liebesszenen der Literaturgeschichte führt.

Unbeholfen verliebt

Die Frage, warum sich Beatriz auf den so unbeholfen verliebten Alten eingelassen hat, treibt die Lektüre an. Doch dem Warum folgt nicht das klärende Weil. In einem früheren Roman (Elizabeth Costello, 2003) lässt Coetzee einmal seine Protagonistin sagen, dass sie Sätze hasst, die von einem Weil abhängen. Diese nur scheinbar logische Konjunktion genüge ihr nicht. So gibt es auch in Der Pole keine einfache, kausale Erklärung für Beatriz’ Verhalten, und es bleibt nichts übrig, als in den Leerstellen und intertextuellen Verweisen nach ihren psychologischen Beweggründen zu suchen.

Nach dem Konzert gehen Beatriz und Witold essen, unterhalten sich in schlechtem Englisch, und nicht einmal die Musik kann als gemeinsame Sprache dienen, denn sie kann mit seinen Interpretationen nichts anfangen. Trotzdem erreicht sie bald darauf eine E-Mail: Er möchte sie in Girona wiedersehen, wo er Meisterkurse gibt. Die Unterschrift lautet: "Ihr Freund Witold mit dem schwierigen Namen". Beatriz antwortet etwas unwirsch, sie will wissen, warum er wirklich schon wieder in Katalonien ist. Seine Antwort ist ehrlich und erwartbar: "Ich bin Ihretwegen hier. Ich habe Sie nicht vergessen."

Coetzee
J. M. Coetzee, "Der Pole". € 20,60 / 144 Seiten. S. Fischer, 2023.
S.Fischer-Verlag

Voller Lust, ja Wollust

In der spanischen Version, die dem Autor zufolge ja ebenfalls ein Original darstellt, geschieht hier ein subtiler Wechsel vom Sie zum Du: Ich bin wegen dir hier ("Estoy aqui por ti"). Reinhild Böhnke, die sich seit vielen Jahren um die Übertragung von Coetzees Werk ins Deutsche verdient gemacht hat, stand natürlich nur das englische Original zur Verfügung, das keine Höflichkeitsform kennt. Vielleicht wird man Coetzees Roman, in dem ein rudimentäres Weltenglisch, aber auch Spanisch, Katalanisch, Französisch und Polnisch gesprochen werden und in dem es immer wieder um das Übersetzen geht, nur gerecht, wenn man ihn in mehreren Sprachen liest, seine Bedeutungen gleichsam einkreist, um so das Original erahnen zu können. Coetzee schreibt auf Englisch gegen die Hegemonie des Englischen an, und ebenso widersprüchlich ist es, dass er als Anwalt der Literaturen des Südens einen gesamteuropäischen Roman geschrieben hat. Doch wahre Literatur kennt freilich kein Oben und Unten, sie verweist ohne Hierarchien und voller Lust, ja Wollust, aufeinander. So ist es wohl Dante, der Witolds späte Liebe Beatriz am besten erklären kann: Auch Dante verfolgt seine Beatrice, die er zu Lebzeiten nur zweimal gesehen hat, bis ins Jenseits, wo sie ihn abweisend empfängt. Coetzees Der Pole kehrt diese Situation nun um: Nüchtern erzählt, aber mit großer Lust am literarischen Spiel lässt uns Coetzee miterleben, wie Beatriz/Beatrice das seltsame Werben um sie empfindet. Trotz aller Distanz entsteht so ein berührendes Porträt des Künstlers als alter Mann. (Stefan Kutzenberger, 3.6.2023)