Zucker künstlicher Süßstoff Saccharin 
Süßstoff (rechts) ist zwar kalorienärmer als herkömmlicher Zucker (links), hilft aber trotzdem nicht bei der Gewichtsreduktion, zeigen Studien.
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Es klingt paradiesisch: Manche dieser Substanzen sind mehr als tausendmal süßer als Zucker. Aber sie fördern weder die Bildung von Karies, noch enthalten sie Kalorien. Ein Segen also für die Gesundheit, möchte man meinen. Aber jetzt geraten künstliche Süßstoffe, kurz KS, wie Saccharin, Aspartam oder Cyclamat immer wieder in die Kritik. Wissenschaftliche Studien legen nahe, dass auch der Konsum sogenannter "Light"-Produkte, die mit KS gesüßt sind, schädlich sein könnte. Was bedeutet das?

Süßstoffe billiger als Zucker

Eigentlich gibt es künstliche Süßstoffe schon lange. Saccharin, der erste dieser Sorte, wurde bereits 1879 entdeckt. Aber erst während der ersten "Diätwelle" in den 1960er-Jahren stieg die Nachfrage in Europa und den USA deutlich an. "In der Folge kamen weitere, verbesserte Süßstoffe auf den Markt", berichtet die Gesundheitswissenschafterin Sonja Hirsbrunner aus Bern. Und nicht nur viele Menschen, die Kalorien reduzieren wollen, greifen seither oft auf KS zurück, sei es in Softdrinks, Joghurts, Kaugummis, Zuckerln oder beim individuellen Süßen von Tee oder Kaffee. "Auch die Industrie setzt gerne auf diese Alternative", berichtet Hirsbrunner, "denn solche Süßstoffe sind sowohl im Einkauf als auch in der Produktion günstiger als gewöhnlicher Haushaltszucker."

In Zahlen bedeutet das: In den USA ist der KS-Konsum zwischen 2000 und 2020 um 54 Prozent gestiegen, weltweit nahm er in allen Altersgruppen stark zu. Allein in der Schweiz, schätzen Fachleute, werden pro Jahr rund 75 Tonnen künstliche Süßstoffe verbraucht. Und es ist davon auszugehen, dass die Werte in Österreich, wo Süßes ja generell sehr beliebt ist, nicht niedriger liegen. Vor wenigen Jahren gaben hierzulande bei einer Untersuchung jedenfalls 71 Prozent der Befragten an, künstliche Süßstoffe zumindest gelegentlich zu nutzen oder in Fertigprodukten zu konsumieren. Dabei mehren sich die Hinweise, dass KS vielleicht gar nicht dabei helfen, das Idealgewicht zu halten – und bedenkliche Nebenwirkungen haben könnten.

Forschungsergebnisse nicht eindeutig

Sonja Hirsbrunner wollte es genauer wissen. "Bei uns zu Hause gab es am Küchentisch oft intensive Diskussionen, ob zum Beispiel Softdrinks mit KS überhaupt gesünder seien, als diejenigen mit Zucker", erzählt die Gesundheitswissenschaftlerin. "Ich wollte herausfinden, was die Forschung dazu sagt." Im Rahmen ihrer Abschlussarbeit im Studiengang Gesundheitsförderung und Prävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) hat sie zahlreiche aktuelle Untersuchungen analysiert und deren Resultate verglichen. So einfach, wie sie anfangs hoffte, lässt es sich allerdings nicht beurteilen, ob künstliche Süßstoffe problematisch sind – oder eben nicht. Die Ergebnisse der insgesamt 15 wissenschaftlichen Studien aus Europa, den USA und Australien, die Hirsbrunner durchgearbeitet hat, zeichnen kein einheitliches Bild.

Manche legen nahe, dass durchaus Anlass zur Sorge besteht: Wer viel KS konsumiert, hat ein höheres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen als Menschen, die bei solchen Substanzen zurückhaltend sind, kam bei drei der Untersuchungen heraus. "Man sollte das aber nicht überbewerten", sagt Hirsbrunner. "Viele Testpersonen in diesen Studien waren zum Beispiel übergewichtig – und das begünstigt die Entstehung solcher Leiden." Vielleicht war der Konsum von KS also lediglich eine Begleiterscheinung des erhöhten Körpergewichts und hatte selbst keinen Einfluss auf die Entstehung der gesundheitlichen Probleme.

Nicht zum Abnehmen geeignet

Vier der analysierten Studien kommen zu dem Schluss, dass sich Lebensmittel, die KS enthalten – obwohl diese im Gegensatz zu Zucker ja kalorienfrei sind –, nicht eignen, wenn man abnehmen will. Zwar gab die Mehrheit der Testpersonen an, nach dem Konsum KS-haltiger Produkte kurzfristig weniger Lust auf Süßes verspürt zu haben als bei nüchternem Magen. "Dafür aber griffen sie in der übrigen Zeit häufiger zu anderen kalorienreichen Lebensmitteln, die zum Beispiel viel Fett enthalten", so Hirsbrunner. Eine mögliche Erklärung dafür: Man hat ja an Zucker gespart – und daher ein gutes Gewissen, wenn man sonst beim Essen kräftig zuschlägt und etwa deftige, fett- und kalorienreiche Speisen verzehrt.

Wahrscheinlich aber ist das nicht der einzige Grund. "Zahlreiche wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass die künstlichen Süßstoffe Aspartam, Cyclamat, Sucralose und Saccharin nicht in der Lage sind, die Freisetzung von Sättigungshormonen auszulösen, und somit – anders als Zucker – keine Sättigung und kein Belohnungsgefühl auslösen", sagt Bettina Wölnerhanssen, Ärztin und Leiterin der Forschungsabteilung am St.-Clara-Spital in Basel. Ob sich das langfristig auch auf das Körpergewicht auswirke, müsse noch abschließend geklärt werden.

Süßstoffe verändern womöglich das Mikrobiom

Können KS vielleicht sogar Diabetes fördern – obwohl sie gar keinen Zucker enthalten? Im Dezember 2021 wurde in den USA eine große Überblicksarbeit veröffentlicht, die auch Langzeitbeobachtungen umfasst: etwa eine Studie mit 60.000 weiblichen Testpersonen aus Europa, die über 18 Jahre hinweg begleitet wurden. Die zentrale Erkenntnis: Je mehr künstliche Süßstoffe die Frauen konsumierten, desto höher war ihr Risiko, an Diabetes zu erkranken. Doch wie kann das sein?

Manche Fachleute gehen davon aus, dass künstliche Süßstoffe wichtige Stoffwechselvorgänge im Organismus stören können. "Insbesondere das Darmmikrobiom, also die Gesamtheit der Mikroorganismen, die unseren Darm besiedeln, könnte hier eine zentrale Rolle spielen", sagt die Ernährungswissenschafterin und Leiterin der metabolen Forschungsgruppe am St.-Clara-Spital, Anne Christin Meyer-Gerspach. Veränderungen in Vielfalt, Zusammensetzung und Funktion des Darmmikrobioms können die Gesundheit negativ beeinflussen, Übergewicht und Diabetes begünstigen. "Und erste Erkenntnisse aus Tierversuchen lassen darauf deuten, dass künstliche Süßstoffe negative Veränderungen des Darmmikrobioms hervorrufen." Ob das auch für den menschlichen Organismus gilt, müssten weitere Studien zeigen.

Expertin rät zu Birkenzucker

Noch sind viele Fragen offen. "Den meisten Leuten schmeckt, wenn sie die Wahl haben, klassischer Zucker am besten", sagt Hirsbrunner. Man greife also in der Regel nicht aus Gusto zu kalorienreduzierten Produkten, die KS enthalten, sondern, weil man "vernünftig sein" wolle, so die Expertin. Die Erfahrung zeige: Wer im Alltag regelmäßig größere Mengen solcher Süßungsmittel konsumiert, habe nicht selten bereits mit Gewichtsproblemen zu kämpfen – und dadurch auch mit einem erhöhten Risiko für Diabetes.

Eine aktuelle Studie aus Frankreich liefert KS-Skeptikern allerdings noch auf einer anderen Ebene brisante Argumente: Forschende analysierten die Daten von mehr als 100.000 Erwachsenen über einen Zeitraum von rund acht Jahren. Bei den Testpersonen, die besonders viel künstliche Süßstoffe konsumierten, zeigte sich ein um 13 Prozent höheres Krebsrisiko als bei denjenigen, die weitgehend auf KS verzichteten. Die Süßstoffe Aspartam und Acesulfam-K waren mit dem höchsten Risiko verbunden – insbesondere für Brustkrebs. Zwar kann auch diese Studie nicht erhärten, ob die KS der Auslöser der Erkrankungen waren. Aber sie ist ein weiterer ernster Hinweis darauf, dass ein Zusammenhang zu Gesundheitsgefahren bestehen könnte.

Nicht wenige Fachleute raten daher eher zu sogenannten Zuckeraustauschstoffen (Zuckeralkoholen). Die sind natürlichen Ursprungs – und es wurden bisher keine schädlichen Nebenwirkungen beobachtet. Allerdings enthalten Zuckeraustauschstoffe – anders als die meisten KS – durchaus Kalorien. Xylit (Birkenzucker) beispielsweise verwendet Hirsbrunner selbst gerne zum Backen. "Es hat immerhin nur etwa 40 Prozent der Kalorien von Zucker. Aber die Süßkraft ist genauso stark", sagt sie. "Man kann den Zucker also im Rezept eins zu eins durch Xylit ersetzen und muss nicht lange herumrechnen." Egal ob in Keksen oder Kuchen – geschmacklich lasse sich kaum ein Unterschied zu echtem Zucker feststellen.

Bettina Wölnerhanssen und Anne Christin Meyer-Gerspach vom St.-Clara-Spital in Basel haben zahlreiche Studien mit Xylit und Erythrit durchgeführt. Sie konnten nachweisen, dass diese beiden Zuckeraustauschstoffe bereits in niedriger Dosis die Ausschüttung von Sättigungshormonen bewirken – und dadurch das Hungergefühl reduzieren können. Anders als bei KS wie Sucralose oder Aspartam besteht bei diesen Zuckeraustauschstoffen also kaum das Risiko, dass man hinterher gieriger auf fetthaltige, kalorienreiche Speisen wird und trotz des Verzichts auf Zucker an Gewicht zulegt. Eher im Gegenteil.

Ein weiteres Plus: Sowohl Xylit als auch Erythrit können die Speichelbakterien günstig beeinflussen und so bei regelmäßigem Konsum einen aktiven Beitrag zur Kariesprophylaxe leisten. "In Finnland bekommen Kinder sogar in der Schule zur Vorbeugung gegen Karies Xylit-Kaugummis", so Wölnerhanssen. Der Nachteil: Erwischt man zu viel von solchen Zuckerersatzstoffen, können sie Durchfall auslösen.

Bewusster Konsum

Und klassische künstliche Süßstoffe? Allzu große Sorgen muss man sich auch da nicht machen, vermutet Hirsbrunner. "Ich denke, dass KS, wenn man sie nicht besonders häufig konsumiert, eher keine ernsthaften gesundheitlichen Folgen haben." Sie selbst allerdings verzichtet seit der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema dennoch öfter als zuvor auf Produkte, die solche Stoffe enthalten. "Etwa ein- bis zweimal pro Woche greife ich noch zu einem künstlich gesüßten Softdrink", sagt sie. Im Allgemeinen sei Wasser für den Alltag das geeignete Getränk. Hirsbrunner verweist da auch auf offizielle Empfehlungen: Künstlich gesüßte Getränke werden – genauso wie Süßigkeiten und salzige Snacks – der obersten Stufe der Lebensmittelpyramide zugeordnet und sollten nur in kleinen Mengen genossen werden.

Bettina Wölnerhanssen vom St.-Clara-Spital in Basel sieht das ähnlich. "Man gewöhnt sich leider sehr rasch an süßen Geschmack", sagt sie. "Schnell ist besonders Kindern dann nichts mehr süß genug, und gesundes Essen hat oft kaum mehr eine Chance." Schon daher sei es als Eltern sinnvoll, möglichst oft ungesüßte Getränke und Speisen anzubieten und auch selbst zum Essen Wasser zu trinken. "Wer nur eher selten Zucker, künstliche Süßstoffe oder Zuckerersatzstoffe konsumiert, beeinflusst auf diese Weise sein Geschmacksempfinden für Süßes – und der Körper verlangt schon nach wenigen Wochen nicht mehr so stark danach", sagt die Forscherin. Das sei nicht nur gut für die Gesundheit, sondern habe auch einen angenehmen Nebeneffekt: "Man lernt dann wieder, Süßigkeiten als Besonderheit so richtig zu genießen." (Till Hein, 4.6.2023)