Im Gastblog erzählt der Jurist und Mediator Ulrich Wanderer von einem Fall, in dem sich das ursprüngliche Anliegen der Mediation plötzlich zur Gänze änderte.

"Wir lieben uns, aber das reicht nicht." Tränenfeucht saßen sich Andreas und Michaela gegenüber. Nach 13 Jahren Ehe waren sie an einem Punkt angekommen, der ihnen wie eine Mauer am Ende einer Sackgasse vorkam. Es waren keine neuen Partner im Spiel, keine Gewalt, keine Schulden. Eigentlich sollte man glauben, die beiden führten eine Bilderbuchehe, waren ein richtiges Traumpaar. Und doch schien da etwas nicht zu klappen.

Mediation ist keine Eheberatung, keine Therapie, sondern eine Möglichkeit von mehreren, an selbstbestimmten Lösungen zu arbeiten. Dass dennoch das wertschätzende und offene Gesprächsklima in der Mediation dazu führt, dass Themen adressiert werden, die im ehelichen Alltag sonst auf morgen verschoben oder unter den sprichwörtlichen Teppich gekehrt werden, fällt wohl unter die Kollateralvorteile dieses Settings. So auch in diesem Fall.

Das Erstgespräch

Grundsätzlich dient das Erstgespräch in der Mediation dazu, die Basics zu klären. Die Gesprächsregeln werden erklärt, die Voraussetzungen für allfällige Förderungen können geprüft werden, beziehungsweise wird bei nicht geförderten Mediation der Stundensatz besprochen. Ebenso kann auch die weitere Vorgehensweise skizziert werden. Ein wesentlicher Aspekt ist darüber hinaus auch die Definition des Themas. Geht es beispielsweise um eine Scheidung oder den Versuch, die Ehe zu retten? Sollte Letzteres zutreffen, wäre eine Mediation nicht das Mittel der Wahl und sollte zugunsten einer Eheberatung oder -Therapie beendet werden. In den im Blog behandelten Fall sollte sich diesbezüglich noch eine Wendung ergeben.

Alternativloses Unglück?

Andreas und Michaela waren sich einig, dass sie ihre Beziehung in dieser Form nicht mehr führen konnten. Der Alltag hatte sie zermürbt, der Frust war zu groß geworden und hatte die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft zerstampft. Liebe war nie das Problem gewesen, sie saßen sogar Hand in Hand vor dem Mediator, doch brauchten sie die andere Hand immer wieder, um sich mit dem Taschentuch die Tränen weg zu wischen. "Wir haben es doch versucht, aber der Stress wurde zu viel. Wir mussten uns um alles kümmern, der Job ist wichtig, der Haushalt, der Zweitwohnsitz und auch unser Hobby. Da haben wir nicht gemerkt, dass unser Sexleben dann plötzlich nicht mehr da war. Erst haben wir und noch gewundert und gehofft, es wird wieder. Und dann.. haben wir aufgegeben", schildert Andreas die Situation, wobei Michaela weinend daneben sitzt und stumm nickt. "Ja, und jetzt sehen wir keine Zukunft mehr, weshalb wir uns trennen wollen" bringt sie dann mit tränenerstickter Stimme vor.

Mann und Frau halten Hände
Mediation wird auch von Ehepaaren in Anspruch genommen, die sich lieben und dennoch nicht mehr weitermachen können wie bisher.
Foto: Getty Images/iStockphoto

"Wollen Sie sich trennen oder scheiden lassen? Das ist ein wesentlicher Unterschied", der Mediator versucht etwas Struktur in das Gespräch zu bringen, um das Ziel des Gespräches zu definieren. "Wir haben eigentlich an Scheidung gedacht, aber grundsätzlich wollen wir das ja gar nicht. Gibt es noch andere Möglichkeiten?" meinen die beiden unisono. Der Mediator erklärt in kurzen Worten den Unterschied zwischen einer Trennung in aufrechter Ehe und einer Scheidung und schlägt vor, bis zu einem allfälligen nächsten Termin eine Familienberatungsstelle am Bezirksgericht aufzusuchen, um sich hinsichtlich der Unterschiede noch einmal zu erkundigen.

Wende in der Sitzung

Zehn Tage nach dem Ersttermin meldet sich Andreas wieder beim Mediator und ersucht um einen neuen Termin. Nicht ohne zu erwähnen, dass er sich mit Michaela dahingehend einig ist, vorerst eine befristete Trennung zu vereinbaren. Ziel der Mediation soll nun eine Vereinbarung bezüglich eines Trennungsvertrages sein, in dem neben der Klärung, dass der Auszug aus dem ehelichen Wohnsitz im Einvernehmen erfolge, auch noch finanzielle Fragen hinsichtlich eines laufenden Kredites, der Betriebskosten für den Ehewohnsitz und die Frage der Nutzung des Familienwagens geklärt werden sollte.

Nachdem die Trennung nur vorübergehend geplant war, wollte Michaela die Möglichkeit in Anspruch nehmen, bei ihrer Schwester zu übernachten. Doch kamen die beiden nun auch neben der Klärung der finanziellen Notwendigkeiten auf einer ganz anderen Ebene ins Reden. Sie waren über die Jahre dermaßen an ihre Routine gewöhnt, dass die so unromantische Thematik eines Trennungsvertrages wie eine paradoxe Intervention wirkte und das Ehepaar plötzlich über ihre Enttäuschungen und Bedürfnisse sprechen konnte. Der Mediator griff über 20 Minuten nicht in das – von einem sehr hohen Maß an Wertschätzung und Liebe geprägte – Gespräch ein und bot so den beiden Partnern eine Möglichkeit, sich zum ersten Mal seit 15 Jahren intensiv über ihre Bedürfnisse auszutauschen. Beide entdeckten, dass ihre nun geäußerten Wünsche und Bedürfnisse entgegen der Erwartung in keinster Art und Weise vom jeweils anderen abgelehnt wurden, sondern waren vielmehr von der Kompatibilität der Gedanken überrascht.

Abbruch der Mediation

Der Mediator schaltete sich nach längerer Zeit dann doch in das Gespräch ein, zumal die eigentliche Aufgabe der Mediation, einen Trennungsvertrag zu erarbeiten, durch die gemeinsamen Erkenntnisse nicht mehr prioritär war und schlug vor, den aktuellen Termin zu beenden. Er bot ihnen an, bei Bedarf mit Kontaktadressen für Paarberatungen zur Verfügung zu stehen und verabschiedete die beiden. Michaela und Andrea bedankten sich herzlich und verließen mit Tränen in den Augen das Büro des Mediators, wobei im Gegensatz zu den Tränen am Anfang des Ersttermins nun Erleichterung und Freude das Motiv war.

Wenige Tage später rief nun Michaela mit der Bitte um die angesprochenen Kontaktadressen an, worauf der Mediator ihr drei Möglichkeiten nannte, um mit diversen Fachleuten auf dem Bereich der Paartherapie und Familienberatung ihre Beziehung auf eine neue Basis zu stellen. Sie bedankte sich noch einmal für die beiden Termine und erzählte in sehr emotionalen Worten, dass Andreas und sie ihre Ehe nun auf neue Beine stellen konnten. So erwachte in beiden die Zuversicht auf viele spannende gemeinsame Jahre, was noch wenige Wochen zuvor undenkbar geschienen war.

Mediatorische Themenverfehlung?

Ihr Autor geht sehr wohl davon aus, dass der Vorwurf der Themenverfehlung erhoben werden könnte – völlig zu Recht. Was hier geschah, war keine Mediation, keine Vermittlung in einem Konflikt, sondern etwas anderes. Was genau, ist nicht eindeutig, aber jedenfalls öffnete die sichere Gesprächsatmosphäre in den Räumlichkeiten des Mediators den beiden die Möglichkeit, sich einander zu öffnen. Die scheinbar so verfahrene familiäre Situation hatte ihnen einen Tunnelblick verpasst, der sie blind für ihre eigenen Bedürfnisse gemacht hatte. So absurd es klingt, die Beschäftigung mit dem Ende ihrer Ehe rettete diese auch wieder. Manchmal fühlt es sich ganz gut an, schlecht zu arbeiten, manchmal ist es besser, die Mediation abzubrechen und den Parteien einfach nur alles Gute zu wünschen. (Ulrich Wanderer, 8.6.2023)