Am Sonntagabend stand fest: Aus dem Machtwechsel in der Türkei wird vorerst nichts. Zum dritten Mal nach 2014 und 2018 wurde Recep Tayyip Erdoğan zum türkischen Präsidenten gewählt – laut Wahlbehörde mit 52,14 Prozent, der Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu kam auf 47,86 Prozent. Glaubt man den Spürnasen des Wiener Complexity Science Hub (CSH), dürfte es aber auch diesmal zu Manipulationen gekommen sein – wenn auch in geringerem Ausmaß als noch vor fünf Jahren. In einem "Policy Paper" haben sie ihre Erkenntnisse zusammengefasst.

Fünf Tage nach der Stichwahl präsentierte der Physiker und Komplexitätsforscher Peter Klimek, der während der Pandemie mit seinen Prognosen auch außerhalb der Wissenschaftszirkel bekannt wurde und nebenher seit zehn Jahren auch zu einem "kleinen, obskuren statistischen Forschungsgebiet namens Wahlforensik" forscht, die Ergebnisse seiner Untersuchungen: Bei 2,4 Prozent der insgesamt 180.000 ausgewerteten Wahlurnen bei der ersten Runde der türkischen Präsidentschaftswahl am 14. Mai traten demnach statistisch äußerst unwahrscheinliche positive Ergebnisse für Amtsinhaber Erdoğan auf. Warum dies problematisch ist und auf Unregelmäßigkeiten hinweist, erklärt Klimek im Gespräch mit dem STANDARD.

Der türkische Präsident Erdoğan kann weitere fünf Jahre regieren.
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Vor allem zwei Arten der Wahlmanipulation hat Klimek gemeinsam mit einem türkischen Kollegen, der den Wiener mit den nötigen Daten versorgt hat, ausgemacht: "ballot stuffing" und "voter rigging" – also illegales Mehrfachwählen und unlauterer, etwa physischer oder wirtschaftlicher Druck auf Wählerinnen und Wähler. "Beides hinterlässt sozusagen Fingerabdrücke in der Statistik der Wahlergebnisse", erklärt Klimek.

Mithilfe eines 2012 entwickelten und seither etwa in Russland, Venezuela, Uganda und eben der Türkei erprobten Verfahrens durchsuchten die Forscher die Wahlergebnisse systematisch nach extrem unwahrscheinlichen und deutlich aus dem Gesamtbild fallenden Zahlen in den einzelnen Wahlkreisen. Vor allem in Gebieten mit wenigen und kleinen Wahllokalen fielen Klimek zum Teil eine deutlich erhöhte Wahlbeteiligung sowie ebenso hohe Stimmenanteile für Erdoğan auf, was etwa auf Einschüchterungsstrategien hinweist.

Druck auf Wählerinnen und Wähler

Dies sei zwar kein Beweis für Fälschungen, räumt der Forscher ein, die Zahlen ließen gleichwohl statistische Rückschlüsse auf mögliche Unregelmäßigkeiten zu – je mehr Wahlurnen betroffen seien, desto größer die Wahrscheinlichkeit. "Die Zahl der Wahlurnen in der Türkei war so groß, dass dort bestimmte statistische Gesetzmäßigkeiten greifen müssen", sagt Klimek. Weil viele Einzelergebnisse so stark aus dem Rahmen fielen, dass diese Gesetzmäßigkeiten vielerorts ausgehebelt wurden, wurden die Wiener Komplexitätsforscher hellhörig.

Fans des Präsidenten feierten in Istanbul dessen Sieg.
AP Photo/Khalil Hamra, File

Welche Wahlbezirke heuer genau betroffen waren, lässt sich aus den Daten aber kaum eruieren. "Beim Referendum über das Präsidialsystem 2017 und bei der darauffolgenden Präsidentschaftswahl 2018 waren es vor allem die Gebiete mit hohem kurdischen Bevölkerungsanteil, in denen es zu Einschüchterungen von Wählerinnen und Wählern gekommen sein dürfte."

Knapp an Nachweisbarkeitsgrenze

Wäre es 2017 nicht zu den von Klimek attestierten Manipulationen bei elf Prozent der Wahlurnen gekommen, wäre das Referendum, mit dem sich Erdoğan seine starke Stellung als Präsident in die Verfassung schreiben ließ, vermutlich anders ausgegangen, sagt Klimek. Bei der Wahl 2018 fanden sich schließlich in 8,5 Prozent der Wahlkreise Hinweise auf Irregularitäten. Heuer hingegen ortet Klimek weit weniger starke Unregelmäßigkeiten: "Im Vergleich zu den vorigen Wahlen waren sie diesmal mit 2,4 Prozent knapp an der Grenze der Nachweisbarkeitsgrenze."

Im Vergleich etwa zu Russland, wo das CSH 2012 die Präsidentschaftswahl ausgewertet hat, fielen die Unregelmäßigkeiten in der Türkei ohnehin auch früher schon vergleichsweise moderat aus. "Wahlbezirke mit 100 Prozent Beteiligung und 100 Prozent Stimmen für den Präsidenten gab es zwar in manchen Provinzen Russlands, aber nicht in der Türkei." Man dürfe freilich nicht vergessen, dass die Wahlen auch in der Türkei zwar weitgehend frei, schon wegen der Medienmacht Erdoğans im Vergleich zu Herausforderer Kılıçdaroğlu aber kaum fair waren. "Unter diesen Umständen sind auch die 2,4 Prozent Unregelmäßigkeit schon zu viel", sagt Klimek.

Vorfeld unfair, Auszählung wohl seriöser

Zu einem ähnlichen Urteil waren zuvor auch schon Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter gekommen, die bei der Abstimmung anwesend waren – und auf die auch die Regierung im Vorfeld Druck ausgeübt hatte. Sie bemängelten vor allem, dass es vor der Wahl kein ausgeglichenes Spielfeld gegeben habe, dass mit Verboten von Oppositionsparteien und Verhaftungen von Regierungsgegner gearbeitet worden sei und dass sowohl klassische Medien als auch Onlineplattformen kein unparteiisches Bild vermittelt hätten.

Dabei fällt auf, dass sich die Kritik vor allem auf das Vorfeld der Wahlen bezieht. Die reine Auszählung selbst gilt nämlich nach wie vor als ziemlich schwer manipulierbar, weil es recht strenge Transparenzgesetze gibt. Einzelne Urnenbezirke haben zumindest nur wenige Hundert Mitglieder, weshalb große Fälschungen auf lokaler Ebene an sich schon schwer möglich sind. Jede dieser Urnen wird – in Anwesenheit von Vertretern der Parteien, die auch bei der Stimmabgabe im Raum sind – einzeln ausgezählt, die Ergebnisse werden dann von den Parteienvertreterinnen und -vertretern einzeln an ihre Parteien übermittelt. Auch die großen Nachrichtenagenturen Anadolu und Anka gelangen so an ihre Ergebnisse.

Bei der Auszählung dürfen übrigens auch Bürger zur Beobachtung dabei sein. Erst später werden die Wahlzettel und die aufgezeichneten Ergebnisse physisch in die Büros der Hohen Wahlbehörde gebracht, die die Daten sammelt und bei Bedarf selbst noch nachzählen kann.

Dies erklärt im Übrigen auch, wieso in der Wahlnacht die Ergebnisse von Anadolu, Anka und der Wahlkommission zunächst unterschiedlich lauteten, sich später aber aufeinander zubewegten – die Resultate langen dort in unterschiedlicher Reihenfolge ein. Tatsächlich kamen in beiden Wahlnächten alle drei Organe und offenbar auch die Parteien selbst schließlich zu sehr ähnlichen Ergebnissen.

Passen unfaire Bedingungen und eine faire Auszählung nun zusammen? Aus dem Betrachtungswinkel der liberalen Demokratie natürlich nicht. Wer, wie Erdoğan oder sein persönlicher Freund Viktor Orbán, aber einer "illiberalen Demokratie" das Wort redet, findet in diesem Phänomen wohl auch die Antwort darauf, was mit dem Begriff gemeint sein kann. (Florian Niederndorfer, Manuel Escher, 2.6.2023)