Frau hält ein Toastbrot mit traurigem Smiley in der Hand.
Wer herausfinden will, ob er wirklich an einer Lebensmittelunverträglichkeit leidet, sollte diesen Verdacht immer ärztlich abklären lassen.
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Früher stand in Rezepten drin, was in ein Gericht reinkommen soll. Heute scheint es wichtiger zu sein, was man weglässt. Auf Instagram finden sich tausende Rezepte, die auf Laktose, Gluten und Fruchtzucker verzichten. Auch im Supermarkt stapeln sich immer mehr laktose- und glutenfreie Produkte. Viele Menschen, die zu solchen Lebensmitteln greifen, tun das aus gesundheitlichen Gründen: Sie vermuten bei sich eine Nahrungsmittelunverträglichkeit, weil sie nach dem Essen Bauchschmerzen, Blähungen oder Durchfall bekommen, mitunter sogar Hautausschlag. Nur: Sind es wirklich die einzelnen Lebensmittel, die diese Beschwerden auslösen? Oder werden Gluten, Fruktose und Laktose zu Unrecht beschuldigt?

Die Antwort darauf ist nicht ganz einfach. Wie viele Menschen tatsächlich eine Nahrungsmittelunverträglichkeit haben, ist schwer zu sagen. Studien legen zwar nahe, dass gut 20 Prozent der westlichen Weltbevölkerung unter ernährungsbedingten Beschwerden leiden, allerdings "handelt es sich bei den 20 Prozent um eine Mischzahl", sagt Christian Sina, Leiter des Instituts für Ernährungsmedizin der Universität Lübeck. Die Zahl beinhaltet nicht nur Menschen mit Unverträglichkeiten, sondern auch solche mit Reizdarmsyndrom oder anderen Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts. Denn diese werden häufig durch die Art und Weise beeinflusst, wie sich ein Mensch ernährt. Hinzu kommt eine Schwäche der Studien: Oft beziehen sie sich auf Selbstaussagen der Betroffenen. Ob die Eigendiagnosen stimmen, ist medizinisch nicht belegt. "Valide Zahlen zur Häufigkeit gibt es nicht", sagt Sina.

Wer auf Verdacht verzichtet, riskiert Nährstoffmangel

Dass sich viele Menschen selbst diagnostizieren, macht es zudem schwierig zu erkennen, woher die Symptome wirklich kommen. Denn es gibt Betroffene, die ihren Verdacht gar nicht erst ärztlich abklären lassen, sondern einfach gleich auf die entsprechenden Lebensmittel verzichten. Das geht aus einer repräsentativen Befragung der deutschen Krankenkasse Pronova BKK hervor. Dabei gaben beispielsweise 51 Prozent der Befragten an, ihre Laktoseintoleranz selbst erkannt zu haben. Nur jeder Zweite davon hatte sich diesen Verdacht allerdings ärztlich bestätigen lassen. Bei Gluten sah es ähnlich aus: Mehr als die Hälfte der Befragten ließ die Diagnose nicht fachlich abklären.

Bestimmte Lebensmittelbestandteile auf eigene Faust zu meiden sieht auch Margitta Worm kritisch. Sie leitet die Sprechstunde für Nahrungsmittelunverträglichkeit am Allergie-Centrum der Berliner Charité. "Menschen, die sich in Verzicht üben, schränken oft ohne Grund ihre Lebensqualität ein, riskieren manchmal sogar einen Nährstoffmangel." Umfangreiche Ernährungsumstellungen könnten zudem die Bakterienvielfalt im Darm reduzieren und dadurch die Darmgesundheit negativ beeinflussen.

Dass so viele Menschen die ärztliche Abklärung meiden, könnte damit zusammenhängen, dass Nahrungsmittelunverträglichkeiten mitunter schwer zu diagnostizieren sind. Wichtig ist dabei auch die Abgrenzung zu einer Lebensmittelallergie, denn bei einer Allergie reagiert der Körper grundlegend anders als bei einer Unverträglichkeit. "Im Gegensatz zu Lebensmittelallergien bewegen sich Unverträglichkeiten in einem medizinischen Graubereich", sagt die Medizinerin Worm. Bei Lebensmittelallergien reagiert das Immunsystem fälschlicherweise auf harmlose Substanzen, etwa bestimmte Eiweiße in Nüssen oder im Fisch. Die sogenannten IgE-Antikörper, die dabei gebildet werden, werten die Proteine als vermeintlichen Feind und versuchen, ihn abzuwehren. Mögliche Folgen sind Juckreiz, Nesselfieber oder Schwellungen bis hin zu Luftnot, Erbrechen und Kreislaufbeschwerden. Ähnlich ist es bei der sogenannten Zöliakie, einer chronischen Autoimmunkrankheit, die dazu führt, dass die Betroffenen das Klebereiweiß Gluten nicht vertragen. Auch hier stuft das Immunsystem den Stoff fälschlicherweise als schädlich ein und bekämpft ihn. Dadurch entstehen Entzündungen im Körper, und es kommt zu Bauchschmerzen, Blähungen, Übelkeit oder Durchfall. Sowohl die Lebensmittelallergien als auch eine Zöliakie lassen sich mit recht einfachen Blut- oder sogenannten Provokationstests nachweisen.

Leidensdruck groß

Im Gegensatz zu Lebensmittelallergien sind Unverträglichkeit zudem dosisabhängig. "Wer stark auf Erdnüsse allergisch ist und sie zu sich nimmt, reagiert in der Regel immer, egal wie viel sie oder er isst", sagt Margitta Worm: "Bei Intoleranzen gibt es hingegen eine Schwelle." Eine Person mit Laktoseintoleranz kann mitunter also einen zusatzstofffreien Naturjoghurt, in dem wenig Milchzucker steckt, ganz gut vertragen, einen Latte macchiato aber nicht, weil hier der Laktosegehalt durch die große Portion Milch höher ist. Die Einnahme von Medikamenten, das Trinken von Alkohol oder auch Sport können ebenfalls dazu beitragen, dass eine Person empfindlicher auf bestimmte Nahrungsmittelbestandteile reagiert. Selbst die Tageszeit scheint einen Einfluss zu haben.

Für den Ernährungsmediziner Christian Sina ist die Frage, wie viele Menschen unter einer wirklichen Unverträglichkeit leiden, jedoch gar nicht unbedingt so entscheidend. Denn er sieht bei seiner täglichen Arbeit in der Hochschulambulanz des Uni-Klinikums in Lübeck den Leidensdruck der Menschen. Viele dieser Patienten ziehen jahrelang vom Arzt zur Ärztin, ohne herauszufinden, was ihre Verdauungsstörung verursacht. Um die Beschwerden zu lindern, setzen einige auf Diät, greifen zu Ersatzprodukten, nehmen Heilerde, mischen sich Pfefferminzöl ins Wasser oder kaufen sich teure Probiotika, eine Zubereitung aus lebenden Mikroorganismen, wie etwa Milchsäurebakterien, die die Darmgesundheit fördern sollen.

Manche unterziehen sich sogar wissenschaftlich umstrittenen Untersuchungen wie dem Serum-IgG-Verfahren. Hierbei erhalten die Betroffenen ein kleines Testkit nach Hause geschickt, mit dem sie sich aus der Fingerkuppe Blut abnehmen. Die Probe schicken sie dann ins Labor, wo die jeweiligen Anbieter sie auf Untergruppen des IgG-Moleküls untersuchen, das bei Unverträglichkeiten vermehrt ausgeschüttet werden soll. "Bislang gibt es jedoch kein wissenschaftliches Fundament, dass das Vorliegen nahrungsmittelspezifischer IgG-Moleküle krankheits- und damit auch therapierelevant ist", sagt Sina, "möglicherweise sind sie sogar protektiv, können also vor Unverträglichkeiten schützen." Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung spricht sich in einer Stellungnahme ebenfalls gegen das Verfahren aus.

Eine ähnlich umstrittene Methode ist der Mikrobiomtest, der anhand einer per Post eingeschickten Stuhlprobe herausfinden will, welche Unverträglichkeiten ein Mensch hat. Am Ende ihrer Odyssee haben manche mehrere Tausend Euro ausgegeben. Der Bedarf nach Unterstützung ist also groß.

Ernährungstagebücher sinnvoll

Herauszufinden, woher die Beschwerden genau kommen und mit welchen Handgriffen sie gelindert werden können, ist daher entscheidend. Bei der Diagnostik geht es deshalb zuallererst darum, andere Erkrankungen auszuschließen. Ernährungsmediziner Sina erinnert sich etwa an einen Mann, der wegen seines starken Durchfalls bereits zig Ärzte aufgesucht hatte. Am Ende stellte sich heraus, dass ihm vor einigen Jahren die Gallenblase entfernt worden war. Dass sich die Gallenflüssigkeit dann direkt in den Darm entleeren und Durchfall auslösen kann, ist eine bekannte Nebenwirkung. Dem Mann wurde das allerdings nicht gesagt, und die Ärzte, die er wegen seiner Beschwerden aufsuchte, hatten diesen Umstand offenbar nicht ausreichend berücksichtigt, berichtet Sina.

Nützlich sind auch Ernährungs- und Symptomtagebücher. Mit ihrer Hilfe können Betroffene – mit Unterstützung von Ernährungstherapeutinnen und Ernährungstherapeuten – herausfinden, wie viel eines Stoffes sie vertragen und welche Begleitumstände die Überempfindlichkeit gegebenenfalls triggern beziehungsweise fördern. Und sie können herausfinden, ob ihre Symptome wirklich von Lebensmitteln ausgelöst werden. Falls ja, reichen in einigen Fällen schon ein paar wenige Anpassungen: "Manche Menschen müssen sich am Ende tatsächlich gar nicht so sehr einschränken, sondern nur etwas ihren Lebensstil ändern", sagt Worm. Um ihrem Darm etwas Gutes zu tun und sich gesünder zu ernähren, essen einige Menschen beispielsweise extra viel Obst. Zu viel Fruchtzucker kann jedoch auch bei Gesunden die Fruktoseaufnahme stören. Im Schnitt vertragen gesunde Erwachsene nicht mehr als 35 Gramm Fruktose am Tag, was etwa einem halben Liter Apfelsaft entspricht. In so einem Fall reicht es möglicherweise schon, das Obstessen zu reduzieren.

"Darüber hinaus braucht es Forschung", sagt Sina: "Viele Mechanismen, wie unser Magen-Darm-Trakt mit Nahrung umgeht, haben wir einfach noch nicht ausreichend entschlüsselt." Das liegt auch daran, dass das Organ so komplex ist – entsprechend vielfältig sind Einflussfaktoren. "Das Wichtigste ist jedoch, dass wir alle Patienten ernst nehmen", betont der Ernährungswissenschafter. "Nur weil wir die Ursache ihrer Beschwerden bislang noch nicht kennen, heißt das nicht, dass diese eingebildet sind: Möglicherweise haben wir nur noch nicht genau hingeschaut." (Stella Marie Hombach, 3.6.2023)