Adelheid Wölfl aus Zvečan

Unter Sonnenschirmen sitzen Frauen und tratschen oder trinken Kaffee. Dahinter befinden sich eine Metallabsperrung, zwei Reihen mit Stacheldrahtrollen, dann kommen polnische Soldaten der internationalen Kfor-Truppen, im Hintergrund sind Einheiten der kosovarischen Sonderpolizei Rosu zu sehen. Im Gemeindeamt selbst befindet sich gar niemand, weder der albanische Bürgermeister, der hier im mehrheitlich von Serben bewohnten Ort Zvečan im Norden des Kosovo vergangene Woche sein Amt angetreten hat, noch irgendein anderer Beamter.

Die Situation ist surreal, denn niemand weiß mehr so genau, weshalb hier protestiert wird oder weshalb sich hier so viele Polizisten und Soldaten befinden. Vergangenen Montag hatten hier noch Serbinnen und Serben dagegen protestiert, dass ein Albaner als Bürgermeister sein Amt angetreten hatte. Er wurde bei der Kommunalwahl am 23. April auch nur deshalb gewählt, weil die Serben im Norden des Kosovo auf Anweisung der Partei Srpska Lista, die vom serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić kontrolliert wird, die Wahlen boykottiert hatten.

Die schlimmste Gewalt seit Jahren

Neben den protestierenden lokalen Serbinnen und Serben waren am Montag aber auch Kriminelle und Geheimdienstler aus Serbien nach Zvečan gekommen und hatten die Kfor-Soldaten angegriffen. Elf Soldaten des italienischen Kontingents und 19 des ungarischen Kontingents erlitten Verletzungen, darunter Brüche und Verbrennungen durch Böller, die mit Nägeln gespickt und in Alkohol getränkt waren. Manchen wurden die Unterschenkel zerfetzt. Einige zogen nach dem Einsatz scharfe Munition aus ihrer Schutzkleidung. Der Schock in der Nato und in der EU sitzt tief. Seit zwanzig Jahren ist es im Kosovo nicht mehr zu so einer Gewalteskalation gekommen.

Kfor-Soldaten, Stacheldraht und Einwohner des Kosovo.
In mehreren Orten des Kosovo, im Bild Leposavić, haben die Spannungen zuletzt deutlich zugenommen.
EPA/GEORGI LICOVSKI

"Wo Kosovo beginnt, endet die Vernunft", konstatiert ein slowenischer Fotograf, der dazu übergegangen ist, die Hunde zu fotografieren, nachdem die vermummten Soldaten schon so oft abgelichtet wurden. Die Hunde im Nordkosovo sind ohnehin großen Profiteure der Politkrise. Die Nato-Soldaten streicheln sie und geben ihnen zu essen. Und sie schlabbern beschützt von den schwerbewaffneten Soldaten das Regenwasser, das sich über den in den Boden versenkten Kanaldeckeln gesammelt hat.

Leposavić
Video: Samir Delić
DER STANDARD

Die serbischen Frauen hier wollen weiter protestieren, bis die kosovarische Sonderpolizei Rosu abzieht. Die 42-jährige Jelena K., eine Ärztin, erzählt, dass ihre Tochter aus Angst nicht mehr außer Haus geht, weil sie vergangene Woche durch die Reihen der Polizei und des Militärs gehen musste, um in die Schule zu gelangen, die gleich hinter dem verbarrikadierten Gemeindeamt liegt. "Wir haben alle Angst vor der albanischen Polizei", sagt sie. Die Schule bleibt nun geschlossen.

Fotomotiv Hund als Abwechslung von den Soldaten im Kosovo.
Samir Delic

Die EU-Staaten setzen sich nun dafür ein, dass in den vier serbischen Gemeinden im Nordkosovo im August oder September Kommunalwahlen stattfinden, um die Situation zu entspannen. Die jetzigen albanischen Bürgermeister sollen im Juli zurücktreten. Das würde allerdings nur dann Sinn machen, wenn die Serbinnen und Serben auch an den Lokalwahlen im Sommer teilnehmen. "Wir würden zu den Wahlen gehen, wenn vorher der Verband der serbischen Gemeinden geschaffen wird", sagt Jelena K.

Ablenkung von Protesten

Die kosovarische Seite ist allerdings gegen einen solchen Gemeindeverband, weil sie die Sorge hat, dass sie die Souveränität des kosovarischen Staates unterläuft und Serbien sich auf immer und ewig in die inneren Angelegenheiten des Nachbarstaats einmischen kann, welchen es nicht als unabhängig anerkennt. Der serbische Präsident Aleksandar Vučić, der von den Protesten gegen ihn im eigenen Land ablenken will, war wiederum bisher nicht bereit, ein Abkommen mit dem Kosovo zu unterschreiben. Darauf wird nun vom Westen gedrängt.

Manche in der internationalen Gemeinschaft geben vor allem dem kosovarischen Premier Albin Kurti die Schuld für die Eskalation der Lage, weil sie sagen, er hätte gar nicht erst versuchen sollen, die gewählten Bürgermeister in die Gemeindeämter zu schicken und er hätte nicht die kosovarische Sonderpolizei Rosu schicken sollen, um die Bürgermeister zu beschützen. Die Sonderpolizei Rosu hat bei den Serben und Serbinnen im Nordkosovo einen äußerst schlechten Ruf. Es gibt glaubwürdige Berichte über ethnisch motivierte Brutalität mancher Rosu-Beamten gegen Serben im Norden. Die Männer, die in dem Café neben dem umzingelten Gemeindeamt in Zvečan sitzen, nennen die Rosu einfach nur "die Terroristen".

Kosovarische Polizisten im Café in Zvečan. Sie werden von Serbinnen und Serben teilweise als Terroristen bezeichnet.
Samir Delic

So nennt sie auch Vučić, und so nannte viele Jahre lang auch das serbische Regime unter Slobodan Milošević alle jene Kosovo-Albaner, die gegen ihre Unterdrückung im ehemaligen Jugoslawien protestierten. In all dieser Konfusion und Ungenauigkeit, zwischen all diesen wechselseitigen Schuldzuweisungen und Verallgemeinerungen spielt sich der derzeitige Konflikt ab. Unklar ist bisher, wo sich die kriminellen serbischen Angreifer nun befinden und ob gegen sie ermittelt wird. Manche konnten allerdings durch die Filmaufnahmen identifiziert werden.

"Put in Kosovo"

Auf eine Hausmauer neben dem Gemeindeamt in Zvečan ist das Gesicht des bosnisch-serbischen Schwerstverbrechers Ratko Mladić gemalt, der für den Genozid an Muslimen in Srebrenica und den jahrelangen Beschuss von Sarajevo zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Der Ex-General wird hier als Held gefeiert, unter dem Wandbild ist ein "Z" zu sehen, das für den Angriffskrieg des Kreml gegen die Ukraine steht. Unter den aufgehetzten Serbinnen und Serben im Kosovo gibt es Kreml-Anhänger. Russland stellt sich auch im aktuellen Konflikt voll hinter Vučić. Plakate mit den Worten "Put in Kosovo" sind auch zu finden.

Es ist ein schöner Junibeginn, die steilen Hänge aus rotem Gestein sind mit einem zarten grünen Grasflaum überzogen. Mohnblumen und lila blühende langstielige Disteln zieren die Straßenränder. Aber auch Flaggen. Jene Firma, die serbische Flaggen in den Kosovo liefert, muss mittlerweile steinreich sein. Es gibt wohl keinen anderen Ort auf der Welt, an dem die Flaggendichte so hoch ist. Für die, die es trotzdem nicht verstehen wollen, steht zuweilen auf Banner geschrieben: "Hier ist Serbien."

Nicht nur in Belgrad (Foto), sondern auch in mehrheitlich serbischen Gemeinden im Kosovo wird teils auch Russlands Präsident Wladimir Putin verehrt.
APA/AFP/ANDREJ ISAKOVIC

Der Norden des Kosovo wurde nach der Unabhängigkeit niemals wirklich in den kosovarischen Staat integriert, deshalb wurde die Bevölkerung auch im Glauben gelassen, dieser Teil des Landes könnte doch irgendwann wieder ganz zu Serbien gehören. Dieses Versäumnis der internationalen Gemeinschaft rächt sich immer wieder, weil es Vučić und dem Kreml sehr effektives Störpotenzial gibt. Dazu kommt die nationalistische Propaganda.

Religiöse Formeln

Die Lieder sind schon von weitem zu hören, wenn man hinter der Kohlemine den Hügel zum Gemeindeamt hinauffährt, vorbei an den österreichischen Soldaten der internationalen Kfor-Truppen, die hier Wache schieben. "Dein Vater, Sohn, ist auf der himmlischen Wache. Dort wo Zar Lazar seinen Kopf gab, im heiligen Kosovo ist auch Papa gefallen. Christus gab ihm sofort das ewige Königreich. Wer erinnert sich nicht an die Leistung der Helden? Möge der Fluch der Helden des Kosovo ihn erreichen!", klingt es aus den Lautsprechern.

Das Lied verweist auf den Kosovo-Mythos. Der besagt, dass die Schlacht auf dem Amselfeld 1389, als der serbische König Lazar starb, eine besondere Bedeutung für Serben habe. Jene, die damals gegen die Osmanen ihr Leben verloren, sollen durch "ihre Entscheidung, physisch vernichtet zu werden", ihren Wunsch nach dem Himmel betont haben, und dadurch hätten sie Zugang zum ewigen Königreich erhalten. Laut der nationalistischen Propaganda der letzten Jahrzehnte aus Belgrad ist diese Interpretation heute noch von Bedeutung, und ein politischer Kampf um den Kosovo ist etwas Erhebendes oder Heiliges.

Auf einer Wandmalerei in Zvečan ist der serbischen Kriegsverbrecher Ratko Mladić dargestellt.
Samir Delic

Der Konflikt hat sich nun vor allem deshalb geändert, weil sich die USA von ihrem früheren Verbündeten, der kosovarischen Regierung, abgewendet hat und eher die Forderungen von Vučić unterstützen. Das hat auch damit zu tun, dass sie den Premier Albin Kurti, einen früheren linken Studentenführer, nicht mögen, der die internationale Gemeinschaft im Kosovo immer kritisierte. Kurti ist nicht erpressbar wie die früheren kosovarischen Eliten, auch weil er nicht korrupt ist. Und er lebt geradezu davon, im Widerstand zu sein. Mit dem intellektuellen und sturen Kurti kann man auch keine Hinterzimmerdeals machen.

Und er weiß, dass er vor allem die jungen Kosovaren hinter sich hat. Menschen wie die 18-jährige Sumeja, die im Süden der geteilten Stadt Mitrovica mit ihren Freundinnen auf einer Bank sitzt. "Ich verstehe die Amerikaner nicht, die waren immer auf unserer Seite, und jetzt unterstützen sie Serbien", meint Sumeja. "Ich verstehe auch nicht, weshalb die USA Kurti kritisieren, weil die gewählten Bürgermeister in ihre Ämter eingeführt wurden." Sumeja wünscht sich eigentlich ein gemeinsames Mitrovica, das heute praktisch geteilt ist, weil die Serben im Norden und die Albaner im Süden kaum interagieren. "Wenn wir über die Brücke in den Norden gehen, fühlen wir uns nicht sicher, ich kenne auch niemanden von der anderen Seite", sagt sie.

Kosovaren mit der Flagge der UCK im Süden der geteilten Stadt Mitrovica.
Samir Delic

Ein paar Buben laufen herum, zeigen den "Adler", sie verkreuzen die Arme und lassen ihre Finger wie die Flügel des Vogels flattern. Der Adler ist sowohl auf der albanischen als auch auf der serbischen Flagge zu sehen. Er verweist auf den byzantinischen Reichsadler, eigentlich ein Symbol der Orthodoxie. Erst ab Ende des 19. Jahrhunderts, vor der Nationalstaatswerdung von Albanien, wurde der Adler als Nationalzeichen für die Albaner reaktiviert. "Ich bin Albin Kurti", ruft einer der Buben, und ein anderer meint: "Ich bin Haschisch Thaci", womit er den Namen des ehemaligen kosovarischen Präsidenten Hashim Thaçi verballhornt, dem gerade wegen Kriegsverbrechen der Prozess gemacht wird.

Junge Männer haben sich die albanische Nationalflagge oder die Flaggen der ehemaligen kosovarischen Befreiungsarmee UCK um die Schultern geworfen. Hier sollte eigentlich eine Demo stattfinden. Aber die meisten Leute hier im Süden wollen lieber auf der Einkaufspromenade spazieren und die Juniluft genießen.

Kritik an "Europa"

Einige albanische Nationalisten, die aus Prishtina gekommen sind und ein Großalbanien schaffen wollen, behaupten im Gespräch, ihnen gehöre der ganze Kosovo, und deshalb sei es rechtens, dass auch albanische Bürgermeister im Norden eingesetzt werden. "Wir haben 20 Jahre lang auf Europa gehört und immer gemacht, was sie uns gesagt haben. Deshalb weiß der Westen, dass wir viel eher etwas akzeptieren als die serbische Regierung, und deshalb üben sie jetzt auch viel mehr Druck auf uns aus", erklärt einer von ihnen den Grund, weshalb die USA Kurti so stark kritisieren.

Vater und Sohn vor einem abgeriegelten Bürgermeisteramt, aus dessen Fenster die kosovarische Flagge hängt – die hier in Leposavić freilich kaum einer anerkennt.
Samit Delic

Die USA wollen vor allem, dass Kurti die Rosu aus dem Norden abzieht und dass die vier albanischen Bürgermeister im Norden nicht mehr in den serbischen Gemeindeämtern erscheinen. Drei der albanischen Bürgermeister tun das ohnehin nicht mehr, angesichts der aufgeheizten Stimmung ist das auch zu verstehen. Nur Lulzim Hetemi hat sich in der Gemeinde Leposavić im obersten Stock des Amtshauses einquartiert und dieses seit Tagen nicht mehr verlassen. Unten auf dem Platz sitzen die serbischen Männer der Gemeinde und sind durchaus mit Aggressionen geladen.

Eine winzige kosovarische Flagge hängt aus dem Fenster im obersten Stock, unten sind dutzende riesige serbische Flaggen zu sehen. Man kann sich kaum verständigen, weil die Beschallung durch die serbisch-nationalistischen Lieder so laut ist. Ein Mann beginnt mit zwei Besen in der Hand auf dem Platz zu tanzen und sorgt für etwas Entspannung.

Ein anderer Mann, der vor einem Kiosk sitzt, mit einem freundlichen und sorgenvollen Gesicht und einem vom Schnaps ein bisschen getrübten Blick, führt angesichts des ganzen Theaters, das hier gerade aufgeführt wird, zurück zu einer essenzielleren Wirklichkeit. Gefragt danach, wie er die Situation empfindet, redet er nicht über nationalistische Gefühle, Flaggen, Bürgermeister, Bedingungen oder amerikanische Botschafter. Er sagt: "Ich bin Lastwagenfahrer. Aber wegen all dieser politischen Problemen kommen die Lastwagen hier nicht mehr durch. Alles ist für mich unerklärlich. Ich weiß nur, dass ich keine Arbeit und kein Geld habe." (Adelheid Wölfl aus Leposavić, 2.6.2023)