Strahlender Sonnenschein über Wien und nur leichte Wolken im Südosten, wohin wir aufbrechen. Während der Fahrt aber wird der Himmel diesig, und hinterm Neusiedler See ziehen schwarze Wolken auf. Wir halten außerhalb von St. Andrä am Zicksee bei einem Ziehbrunnen, der zum Unesco-Welterbe Neusiedler See gehört und auf Initiative des FC Bauchfleisch restauriert wurde.

"Wos wüll er denn do fotografieren?", fragen ein paar Spaziergänger, als der STANDARD-Fotograf über das ausgedörrte Seebett wandert.
Christian Fischer

Zum Wasserziehen gibt’s hier in der Gegend aber gerade nicht so viel, trotzdem da und dort mal ein kurzer Regenguss die Böden streichelt. Wir fahren die Straße hinein zum See, beim Imbiss Wirschtlkantn bleiben wir stehen. Dort wird viel Bier getrunken und viel über den See geredet:

"Jetzt san schon a poar Lockn drin!"

"Na geh, nix! Er ist komplett austrickat!"

"I kaaf ma jetzt a Hausboot!"

Das ist – Verzeihung – recht trockener Humor. Brigitte (67), die mit ihrem Mann Ahmed (68) auch hier steht, meint, dass der Zicksee der Zicksee bleiben werde, "a waunn a ned do is". Neulich war er wieder mal gar nicht da, und sie konnte ihn zu Fuß durchqueren. Dabei sah sie die Löcher, die von Schatzsuchern stammten. "Die sind da mit ihren Metalldetektoren durchgegangen und haben Schmuck im Wert von 12.400 Euro herausgeholt."

"14.000!"

"12.400! Ketterln, Ringe, Münzen."

Sogar eine Rolex soll dabei gewesen sein. Und wenn es nicht stimmt, dann waren jedenfalls andere Uhren darunter. Wem aber gehört so ein Schatz, und wem gehört das Wasser, das es nicht mehr gibt?

Der Boden bricht auf, der Wasserstandsanzeiger steht einsam im Trockenen.
Der Boden bricht auf, der Wasserstandsanzeiger steht einsam im Trockenen.
Christian Fischer

Viele Gerüchte im Seebett

Es ist hier ein bisschen wie in Roman Polańskis Film "Chinatown", wenn Jake Gittes durch das betonierte Bett des Los Angeles ­River streicht, der kein Wasser mehr führt. Viele Fragen, viele Gerüchte.

"Es gibt genug, die sich dann alles nehmen. Ob es Einheimische waren, weiß ich nicht."

"Na kloar! Einheimische!"

Dann waren die Fische tot, die sie nicht rechtzeitig abgefischt haben. "Die haben sie dann weggeschmissen. Wo, weiß man nicht."

Auch die Duschen braucht heute niemand mehr.
Auch die Duschen braucht heute niemand mehr.
Christian Fischer

Ahmed zeigt uns auf seinem Handy Fotos, da sieht der See aus wie der Boden in Somalia, wenn die Hungerhilfen wieder mal um Spenden für Afrika werben müssen. "So war der See vor einem Monat. Er hat sich erst jetzt durch den Regen wieder ein bisserl aufgeweicht." Nun stapft man durch aufgeplatzten, feuchten Lehmboden, und es wachsen immerhin Gräser. Dazwischen liegen Plastikpatschen, Badehosen, Taucherbrillen, Wasserflaschen. Gold finden wir keines mehr. Der Wasserstandsanzeiger in der Mitte steht einsam im Trockenen. Die Wasserrutsche endet auf ihrem Betonsockel im Nichts.

"Früher konnte man schon schwimmen."

"Na geh, schwimmen hast nie können!"

Man kann sich schwer vorstellen, dass das früher ein ordentlicher Spaß hier war, auch wenn das Wasser des Sees niemals richtig tief stand. Der Zicksee war immer mehr Lacke, und heute wäre man froh, wenn er eine wäre.

"Um den See herumgehn? Kaunnst ned!"

"Durchgehen kaunnst! Aber da muasst die tummeln, weil nach dem Regen steht dir das Wasser bis zur Gurgel."

"Das dauert 50 Jahr, bis der wieder mal g’scheit voll ist!"

Kommt der Regen nun? Kommt er nicht? Der Himmel im Norden färbt sich vielversprechend schwarz. Aber es kommt auch Wind auf, "und wenn der Wind kommt, geht der Regen." Brigitte erklärt, dass die Saison mit Mitte März anfängt und mit Mitte November endet. "Kinder kommen jetzt natürlich weniger, weil es kein Wasser gibt." Sie selbst ist Waldviertlerin und vor 22 Jahren hierhergekommen, der Teilzeitwohnsitz liegt auf einer der 750 Parzellen auf dem Dauercampingplatz. "Das sind Pachtgründe, aber was drauf steht, ist Eigentum." Aber von wegen "Dauercamper": Über den Winter drehen sie auch dort das Wasser ab, dann ist der Platz leer.

War’s die Therme?

Ahmed hat beim amerikanischen Pharmariesen Baxter in der Produktion gearbeitet, sie beim Finanzamt 03, "da waren ein paar Zuckerln dabei", lacht sie. Nun pendeln sie zwischen Wien und hier, zwischen Hochquellwasser und Trockenheit. Sie sind eine Gruppe von sechs Freunden, die abends im Papillon sitzen und es gemütlich haben. Auf dem Campingplatz herrschen strenge Regeln, mit den Nachbarn haben sie bisher Glück gehabt. Ahmed sieht das Zusammenleben so: "Es gibt auch Kinder, die spielen Ball, wenn von 12 bis 14 Ruhe sein muss. Aber wenn Kinder spielen, da brauch ich mich nicht aufregen." Andere rufen: "Schleichts eich! Spülts woanders! Aber das sind Kinder!"

Seit 22 Jahren haben Brigitte und Ahmed ihren Teilzeitwohnsitz auf dem hiesigen  Dauercampingplatz, pendeln von Wien mit seinem Hochquellwasser an den Zicksee mit seiner Sandwüste. Gemütlich finden sie es hier nach wie vor.
Seit 22 Jahren haben Brigitte und Ahmed ihren Teilzeitwohnsitz auf dem hiesigen Dauercampingplatz, pendeln von Wien mit seinem Hochquellwasser an den Zicksee mit seiner Sandwüste. Gemütlich finden sie es hier nach wie vor.
Christian Fischer

Beim Spielplatz trotzt eine Familie mit Oma dem sich verdunkelnden Himmel, sie wollen nicht namentlich genannt und nicht fotografiert werden, aber reden tun sie gerne: "I glaub schaun, dass die Therme schuld is!", burgenlandelt die Mutter. "I woaß goar net, ob des überhaupt zsammenhängt", antwortet die Oma. Und der Vater "woaß es a ned".

"Die Leute reden halt", sind sie sich dann ­einig, bevor wieder Dissens herrscht: Zu zehn Prozent glaub ich dran, dass es heute regnen wird.“ Andere Meinung: "Das verzaht si." Das Wasser im See scheint ihnen aber gar nicht zu fehlen, weil reingegangen sind sie sowieso nie: "Zu dreckig, zu trüb. Waunnst einigsteigst und da gaunze Schlaumm auffakummt, wäääh! Ich bin eher fürs Schwimmbad. Oder für an richtigen Teich, woaßt, wo Stoana san, owa da Schlaumm? Na!" Stolz sind sie auf ihre ­Basilika in Frauenkirchen, von wo sie herkommen. "Die ist sehr berühmt!" Den Fotografen, der im ausgetrockneten See herumspaziert, ­bemitleiden sie: "Was wüll er denn da foto­grafieren?"

Campen am Nicht-See

Alexander ist aus Weiden am See mit dem E-Bike hierhergeradelt. Jeden Tag schaut er nach, ob und wie sich der See verändert: "Normalerweise müsste es regnen", sagt er. "Aber das ist nur ein Witz. Wenn der Wind kommt, dann treibt er die Wolken weg." Früher ist er "total sportlich mit dem Rennrad gefahren", aber sein Körper machte das nicht mehr mit. Mit 62 war er heuer bereit für ein Elektrofahrrad. "Ich hab lange gebraucht, aber ich hätte es mir schon früher kaufen sollen." Er entschleunigt sich gewissermaßen zu seinem Wohle, während wir, die Menschheit, weiterrasen.

Klaus, Mitte 60, kommt seit 15 Jahren ins Burgenland, um Tiere zu fotografieren. Gerade hat er sein Objektiv auf den Nistplatz eines Schwarzspechtes in einer mächtigen Buche gerichtet. "Jetzt passiert mal eine Stunde lang gar nichts", weiß er ganz entspannter Bayer. "Jetzt wird gewartet, bis der Altvogel kommt."

Fotograf Klaus, Birdwatcher
Fotograf Klaus, Birdwatcher
Christian Fischer

Er fährt mit dem Camper und mit seinem Kleinwagen am Anhänger her, "oft a hoibadts Johr". Die Campingkarte kostet ihn 1500 Euro, das Burgenland zahlt mit ungleich größerer Artenvielfalt als in Deutschland zurück. Dort haben sie die Natur bereits noch nachhaltiger ruiniert als hier: "Anderswo gibt es spezielle Arten: die Kraniche in Norddeutschland oder der Purpurreiher in der Wagbachniederung am Rhein. Aber da gibt’s net so vui auf relativ kleiner Fläche." Seit drei Wochen kommt er jeden Tag zum Baum, "in der Früh und auf d’Nacht".

"Das ist schon extrem mit dem Wasser", sagt er mit Blick auf den See. "Das kann man nimmer vergleichen mit vor zehn, fuffzehn Jahren. Auf lange Sicht wird’s den See nimmer geben." Am 1. April, erzählt er, war hier ein Sandsturm, "da war die Straße mit Sand zugedeckt, weil der See staubtrocken war. Jetzt hat’s ein bisserl geregnet, aber das Wasser ist in spätestens zwei Wochen weg. Wenn die Wärme kommt, dann geht das ratzfatz."

"Nach dem Regen ist wieder ein bisserl Wasser da. Aber das ist eher ein Witz. Wenn die Wärme kommt, dann ist es wieder weg."

Klaus, Vogelbeobachter am See

Er sieht einen Grund für das Austrocknen auch in der Landwirtschaft: "Das ist ja hirnrissig, dass die hier Mais anbauen, der am meisten Wasser braucht. Und wenn man vor zwei Jahren geschaut hat, dann haben sie in der Mittagshitze bei 35 Grad durch armdicke Rohre das Wasser rausgebracht." Bevor das am Boden ankam, war die Hälfte verdunstet. "Das dürfen sie jetzt nimmer, soweit ich gehört habe."

Trockener Humor

Ferenc, knapp 80 Jahre alt, kommt aus der Gegend um Györ, er zeigt mir Fotos, die er vom Schwarzspecht gemacht hat: "Das ist, was wir anbeten." Er spricht in schönstem Deutsch mit ungarischem Slang und lobt den Neusiedler See, der auf österreichischer Seite noch artenreicher wäre als drüben. Und doch gilt hüben wie drüben: "Intensive Landwirtschaft; die Angler benehmen sich wie Elefanten im Porzellanladen!" Die Jagdsaison beginne in Ungarn immer einen Monat vor der österreichischen, "das ist nichts anderes als Gier!" Mit dem Nebeneffekt, dass nun neben den hüben wie drüben unerwünschten Flüchtlingen auch noch die Rehe nach Österreich flüchten würden.

Zum Wasserziehen gibt’s hier in der Gegend aber gerade nicht so viel, trotzdem da und dort mal ein kurzer Regenguss die Böden streichelt.
Zum Wasserziehen gibt’s hier in der Gegend aber gerade nicht so viel, trotzdem da und dort mal ein kurzer Regenguss die Böden streichelt.
Christian Fischer

Er erzählt von der nach wie vor großen deutsch­sprachigen Minderheit in Ungarn, den Schwaben, die nach jeder wirtschaftlichen oder politischen Krise geholt wurden und "wieder alles aufgebaut" hätten. Sein Humor hier ist der trockenste. "Der Kaiser war nicht blöd!", sagt er. "Die Dörfer in den Hügeln vor Budapest sind alle zweisprachig. Im Mittelgebirge, am Nordufer vom Plattensee, da haben sie früher Bergbau betrieben, das waren alles Deutschsprachige." Am 6. März 1945 griff die Wehrmacht "des verrückten Hitler" in einer letzten Offensive die sowjetischen Stellungen in der Balaton­-Region an sowie an der Drau in Ungarn. Die Operation hieß "Frühlingserwachen" und war doch nur das letzte Zucken vor dem Sterben. "Die jungen Deutschen hier wurden eingezogen", sagt er mit Tränen in den Augen, und wenn er heute auf den Zentralfriedhof in Györ geht, dann besucht er dort ihre Gräber: "Nur 18 Jahre sind sie geworden. Für was?"

Es ist ein ewiges Sterben auf diesen Böden Europas. Und jetzt verschwindet in ihnen auch noch das Wasser, die Grundlage allen Lebens. (Manfred Rebhandl, 3.6.2023)