Reuters (3), AFP (3), Imago (2), AP; Collage: Lukas Friesenbichler

Ein Konzern steht zwischen allen Stühlen. Er soll den Menschen in Österreich bieder und stabil Energie liefern – und zugleich ist er ein dynamischer Player auf dem rauen globalen Energiemarkt. Er will klassisch Öl und Gas fördern – und muss sich zugleich wegen des Klimawandels ein neues Geschäftsfeld im zukunftsträchtigen Chemiesektor erschließen. Er soll schließlich die Bedürfnisse seiner gewichtigen Eigentümer zufriedenstellen – jene der Republik Österreich und zugleich jene des Emirats Abu Dhabi, dem er zu einem Viertel gehört. Und die Frage, wie man es mit Russland hält, spielt auch immer noch eine Rolle.

Willkommen bei der OMV. Mehr als 22.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weltweit, rund 17 Milliarden Euro Jahresumsatz, Österreichs größter Industriebetrieb und einer der wichtigsten in Europa. Im Ranking der weltgrößten Energiekonzerne liegt die OMV ungefähr auf Platz 50. Doch dieser Konzern ist nicht etwa mit einer großen Restaurantkette oder einem Möbelhaus vergleichbar. Was in der Konzernzentrale in Wien-Leopoldstadt vereinbart wird, betrifft Österreichs Energiezukunft – und damit alle im Land.

Identitätskrise

Doch die OMV steckt in einer Identitätskrise, wie es wohl noch keine in ihrer bald 70-jährigen Geschichte gab. Das zeigte die Hauptversammlung, das Treffen der Aktionärinnen und Aktionäre, am vergangenen Mittwoch in der Messe Wien neben dem Prater.

Normalerweise bedienen sich Kleinanleger bei solchen Veranstaltungen am Buffet, nicken Neubestellungen im Management ab und ziehen wieder ab. Diesmal jedoch gab es nicht nur Proteste von Klimaaktivisten, der Vorstand um den Vorsitzenden Alfred Stern musste sich auch heikle Fragen von Kleinanlegern gefallen lassen: Welche Rolle spielte der Deutsche Rainer Seele, Sterns Vorgänger als OMV-Chef von 2015 bis 2021? Wie läuft die Beziehung zum mächtigen OMV-Vierteleigentümer Abu Dhabi National Oil Company (Adnoc)? Warum läuft die Wandlung vom Öl- und Gaskonzern in Richtung Petrochemie derart zäh?

Was ist in diesem Unternehmen los? Darüber hat DER STANDARD mit OMV-Kennern gesprochen, die zumeist anonym bleiben wollen. Sie erzählen allesamt eine ähnliche Geschichte. Man könnte sie in drei Bereiche gliedern: Erstens gibt es da mächtige Männer, die einander bekämpfen und Intrigen spinnen. Zweitens spielen sich diese Männerfeindschaften vor dem Hintergrund eines Konflikts um die Strategie des Konzerns ab: Eine Transformation Richtung Petrochemie und Kunststoff soll ihn in die Zukunft retten – aber es gibt internen Widerstand. Drittens schließlich bleibt die Frage, an welche mächtigen internationalen Akteure sich die OMV anschmiegen soll – und ob man dabei zu sehr in Abhängigkeiten schlittert.

Mit Widerstand konfrontiert: Alfred Stern, OMV-Chef seit dem Jahr 2021.
Heribert Corn

Flucht nach vorn

Zentraler Akteur ist der Mann an der Spitze, Alfred Stern. Er will die Flucht nach vorn antreten. Ehe Stern zum OMV-Chef wurde, leitete er die wichtige OMV-Kunststofftochter Borealis, an der die OMV seit dem Jahr 2020 75 Prozent hält. Die Borealis produziert hochwertige Kunststoffe, etwa für Verpackungen und die Autoindustrie, und hält wertvolle Patente. Die Tochterfirma gilt in der OMV schlechthin als das Vehikel in Richtung Zukunft. Öl und Gas werden, so die Annahme, künftig in der angestrebten Klimaneutralität nicht mehr schnöde in Kraftwerken und Automotoren verbrannt – sondern die Grundlage hochwertiger chemischer Produkte sein. Genau solche, wie sie die Borealis herstellt.

Diesem Gedanken fühlt sich Stern verpflichtet. Laut seiner "Strategie 2030" soll die Bedeutung der Öl- und Gasexploration bei der OMV radikal sinken – der Konzern bis 2050 gar klimaneutral funktionieren. Und mithilfe der Borealis soll die OMV zum "integrierten Anbieter nachhaltiger Kraftstoffe, Chemikalien und Werkstoffe mit einem starken Fokus auf Kreislaufwirtschaftslösungen" werden.

Doch der Widerstand ist stark. Viele zweifeln daran, ob die forcierte Abkehr von Öl und Gas der richtige Weg ist. Immerhin ist fossile Energie angesichts des Ukraine-Kriegs gerade knapp und teuer – damit lässt sich zurzeit mehr Geld verdienen als mit zukunftsträchtigen Chemieprodukten. Sterns Kritiker lästern gern über die "Borealisierung" der OMV. Stern habe "keinen Kontakt zur alten, gewachsenen OMV", meint ein Kenner des Unternehmens.

Die "gewachsene" OMV

Diese alte OMV ist stark in Niederösterreich verwurzelt, die Stätte altehrwürdiger Öl- und Gasindustrien und der Raffinerie in Schwechat. Die alte OMV beschwört auch gern den Wert einer alten Partnerschaft: jener mit Russland. Es war im Jahr 1968, als die damalige Österreichische Mineralölverwaltung (ÖMV) ihren ersten Gasliefervertrag mit der Sowjetunion schloss – als Vorreiter in ganz Westeuropa.

Drei Monate später kam die erste Lieferung aus Westsibirien in der Station Baumgarten an der March an. Billiges Gas dank guter Verbindungen nach Russland befeuerte damals buchstäblich Österreichs Wirtschaftswunder. In Baumgarten waren OMV-Mitarbeiter immer stolz, dass auch im finstersten Kalten Krieg das Erdgas kam. Man war froh, pragmatische Beziehungen mit Moskau zu pflegen.

Die Tradition wirkt weiter. In ihrem Licht sind auch die Gaslieferverträge zu sehen, die die OMV und Gazprom im Jahr 2018, im Beisein von Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Russlands Präsident Wladimir Putin, verlängert haben. Allerdings gibt es schwerwiegende Kritik an den Inhalten dieses Vertrags, die durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine seit März 2022 noch lauter geworden ist. Ein Kritikpunkt: Der Vertrag enthält eine sogenannte Take-or-Pay-Klausel. Das bedeutet in der Gaswirtschaft, der Lieferant (Gazprom) ist verpflichtet, bis zu einer gewissen Menge Erdgas zu liefern, und der Importeur (OMV) muss diese Menge bezahlen – auch wenn er diese Mengen tatsächlich nicht abgenommen hat. Take-or-Pay-Klauseln sind bei leitungsgebundenen Energieträgern wie Erdgas zwar üblich. Kritik gibt es aber an der Höhe der Abschlagszahlungen bei Nichtabnahme, die weit über 90 Prozent liegen soll.

Aktionärsstruktur OMV
Aktionärsstruktur OMV
STANDARD

Lange Laufzeit

Außerdem erstaunt die Laufzeit der Lieferverträge – bis zum fernen Jahr 2040. Zum Zeitpunkt des Abschlusses 2018 wäre der alte Vertrag noch bis 2028 gelaufen. "Schon vor der Ukraine-Krise gab es die Erwartung, dass der Gasverbrauch zwar bis 2030 ansteigen, in den darauffolgenden Jahren aber um ein Drittel sinken werde", kritisierte Gerhard Roiss, Ex-OMV-Chef von April 2011 bis Juni 2015*, in einem Interview mit dem Magazin Profil im Vorjahr. Anders gesagt: Ein derart lange laufender Vertrag wäre schlicht nicht notwendig gewesen.

Dennoch traten die Politiker Kurz und Putin, OMV-Chef Seele und Gazprom-Boss Alexej Miller vor fünf Jahren, am 5. Juni 2018, in der Wiener Hofburg zusammen und unterzeichneten den langfristigen Kontrakt. Die OMV teilte damals mit, die Feierlichkeiten zur 50-jährigen Partnerschaft von Gazprom und OMV hätten den passenden Rahmen geliefert. Eine goldene Hochzeit war der Deal aber vor allem für die Russen.

Insbesondere die Rolle des Ex-Konzernlenkers Seele wirft Fragen auf. Der Mann, der 2015 zur OMV kam, war ein Putin-Verbinder. 2018 erhielt Seele von Moskau den "Orden der Freundschaft", die OMV sponserte unter Seele Putins Lieblings-Fußballklub Zenit St. Petersburg. "Es gab 2015 schon Warnungen aus Deutschland und den USA, dass der einzige Grund, warum Seele als OMV-Chef installiert wurde, darin bestand, die Abhängigkeit von Russland zu erhöhen", sagt Neos-Abgeordnete Karin Doppelbauer. "Genau das ist passiert."

Knebelvertrag

Die Folge der Take-or-Pay-Verträge ist, dass Österreich bis heute im hohen Maß von russischem Gas abhängig ist, weit mehr als andere EU-Länder. Konkret beträgt der Anteil russischen Gases an den Gesamtimporten laut Klimaschutzministerium 64 Prozent. Bei der Hauptversammlung diese Woche trat zutage, dass die OMV im Jahr 2022 russisches Gas um 6,8 Milliarden Euro bezog. Das sind Summen, die direkt in Putins Kriegskassen fließen. Doch es ist fraglich, ob das auch so bleibt.

Denn Roiss warnte diese Woche bei einer Diskussionsveranstaltung, er habe aus der Ukraine vernommen, Kiew werde die Durchleitung von russischem Gas mit Ende 2024 beenden. Damit wäre der Take-or-Pay-Deal obsolet. Die einzige Variante, sich des Knebelvertrags sonst noch zu entledigen: Die OMV könnte, möglicherweise zusammen mit anderen westlichen Energiefirmen, vor einem internationalen Schiedsgericht die Annullierung der Verträge ausfechten. Es wäre aber eine langwierige und teure Angelegenheit.

Architekt der Russland-Verträge: Rainer Seele, OMV-Chef von 2015 bis 2021.
Heribert Corn

Von Russland in die Emirate

Nicht nur die Russlandfrage treibt die OMV um – auch eine weitere hat mit der Beziehung des Konzerns zu einem mächtigen internationalen Partner zu tun: zu Abu Dhabi. Dessen staatliche Ölgesellschaft Adnoc hätte gerne die Borealis von der OMV gekauft, heißt es. Hintergrund: Ebenso wie die OMV will die Adnoc eine Chemiesparte aufbauen, um zukunftsfähig zu sein. Gerüchte schwirren herum, wonach manche in der OMV willens wären, die Borealis dem Emirat zu überlassen – im Gegenzug bekäme Österreich Flüssiggas aus Abu Dhabi. OMV-Chef Stern wies derlei Spekulationen beim Aktionärstreffen entschieden zurück und schloss einen Verkauf der OMV-Anteile an der Borealis nach Abu Dhabi aus. Fest steht aber: Die Gefahr ist groß, dass die OMV nach Russland in eine neue Abhängigkeit schlittert.

Er habe vollen Rückhalt für seine Strategie in Richtung Petrochemie und Kunststoff, erklärte jedenfalls Stern bei der Hauptversammlung. Doch die Geschichte der OMV zeigt eindrücklich: Mit den Köpfen kann sich auch der Kurs ändern. (Joseph Gepp, Renate Graber, Lukas Kapeller, 2.6.2023)