Mechtild Widrich ist Professorin an der School of the Art Institute of Chicago. In ihrem Gastkommentar ordnet sie die Kontextualisierung des Lueger-Denkmals ein. Sie hofft, dass die Diskussion über die Umbenennung des Platzes weiterlaufen wird.

Das Siegerprojekt von Klemens Wihlidal soll das Denkmal für den antisemitischen Bürgermeister Karl Lueger am Wiener Stubenring künstlerisch kontextualisieren.
Lueger-Denkmal
Lueger wird nicht gestürzt, aber in eine Schräglage gebracht. Der Siegerentwurf zur künstlerischen Umgestaltung des Denkmals stammt von Klemens Wihlidal.
Foto: APA / Georg Hochmuth

Denkmäler zeigen, welchen Teilen der Geschichte von Machthabern öffentliches Gedenken zugesprochen wird. Von Südafrika und den Vereinigten Staaten bis nach Österreich wurden in den letzten Jahren Forderungen laut, problematische Monumente zu entfernen. Diese Forderungen sind zunächst einmal Zeichen einer funktionierenden Demokratie. Was nun im Fall des Lueger-Denkmals in Wien als neuer Ansatz zu den bekannten Optionen – entfernen, ersetzen, stehen lassen – hinzukommt, ist die sogenannte Kontextualisierung oder künstlerische Umgestaltung.

Baustelle Lueger-Kult

Zweifellos arbeitet schon die zurzeit auf dem Platz bestehende Intervention von Nicole Six und Paul Petritsch mit dieser Strategie. Die irritierenden Baulatten machen die räumliche Ausbreitung des Lueger-Kultes in Wien sichtbar. Lueger Temporär ist konsequenterweise wortgetreu als vorübergehend konzipiert, denn der Lueger-Kult ist die Baustelle, die es zu bearbeiten gibt. Nun ging aus einem geladenen Wettbewerb ein aus dem Jahr 2010 stammender (und damals erfolgreicher) Entwurf als Sieger hervor: Damals wie heute schlägt Klemens Wihlidal vor, den Steinsockel (und damit die darauf stehende Bronzefigur) um 3,5 Grad zu kippen, um auf die "Schieflage" der öffentlichen Huldigung Luegers aufmerksam zu machen. Nur kippen statt entfernen? Hätte man die neue "Perspektive" etwa auch textlich vermitteln können?

Denkmäler sind territorial, sie nehmen Platz ein – traditionell zeigen sie dies durch Vertikalität, Monumentalität und raffinierte Einbindung in die Stadtplanung, etwa Blickachsen. Das Lueger-Denkmal ist keine Ausnahme. Eine Umwertung oder Neubewertung muss in diesen räumlichen Registern arbeiten, wenn sie erfolgreich sein soll. Die textliche Ebene kann zusätzlich Information bieten, die Kontexte der Zeitgeschichte vertiefen. Alleine hat sie aber der autoritären Geste des Monumentalen nichts entgegenzusetzen.

Das Wiener Lueger-Denkmal. Auf den Sockel wurde
Lueger-Denkmal
So sieht das Denkmal derzeit aus. Angeschüttet, angesprayt und ergänzt durch die 39 Meter lange Holzkonstruktion "Lueger Temporär".
Foto: APA / Georg Hochmuth

Pointierte Ansätze

Künstlerische Interventionen hingegen sind seit vielen Jahrzehnten pointierte Ansätze, um den öffentlichen Raum zu befragen: Wem wird Platz gemacht, wer darf sich präsentieren? Ohne Auftrag, im Glauben an das Vermögen der Umwidmung, hat etwa in den 1990er-Jahren Krzysztof Wodiczko fotografische Porträts von Obdachlosen auf Statuen in New Yorker Parks projiziert: Zu dieser Zeit regulierte Bürgermeister Rudy Giuliani den Zugang zu den öffentlichen Parkanlagen, welche als Nachtlager dienten. Noch früher umkreiste Valie Export in ihrer Filminstallation Adjungierte Dislokationen (1973) mit zwei an ihrem Körper montierten Kameras die Wiener Lueger-Statue, ihr den Rücken zuwendend, wörtlich wie bildlich. Diese Interventionen verstehen sich als Aufrüttelung, sie rufen zur Verantwortung auf. Die Lösungen können nicht von der Kunst kommen, sondern von der Gesellschaft.

Im Idealfall mahnt Kontextualisierung zur Positionierung und Klärung: Wo endet das private Betrachten, wo werden wir Teil des öffentlichen Bereichs? Welchen Verantwortlichkeiten dürfen wir uns nicht entziehen, welche Rolle spielt der/die Einzelne und die Gruppe? Umgestaltungen, flüchtig oder langfristig, zeigen, dass öffentliches Gedenken in einer demokratischen Gesellschaft dynamisch und daher wandelbar ist. Wie ist das mit dem Fortbestand des Lueger-Denkmals zu vereinen?

"Die Autorität des Objekts wird hinterfragt, und es ist genau das, was Kunst kann und soll."

Ist die permanente künstlerische Umgestaltung einfach eine Konzession an die momentane politische Befindlichkeit, welche es allen recht macht? Sicher, das kontroverse Objekt wird belassen, aber es wird uns neu als instabil gezeigt. In dem Vorschlag von Wihlidal, der mit einem Restaurator gemeinsam entwickelt wurde, könnte der Kopf um etwa 49 Zentimeter nach rechts rücken – das sollte gut sichtbar sein und durchaus so aussehen, als würde die Statue kippen. Die Autorität des Objekts wird hinterfragt, und es ist genau das, was Kunst kann und soll: Sie nimmt uns in die Pflicht.

Ob sich die Politik zu einer Entfernung hätte durchringen sollen oder man dieses Projekt bereits vor Jahren hätte durchführen können, sei dahingestellt. Denkmäler und ihre Veränderungen zeigen immer auch den aktuellen Zustand der Öffentlichkeit.

Und der Lueger-Platz?

Gerade in der österreichischen Denklandschaft ist diese Entscheidung zur Schieflage nicht unpassend: Die Frage, inwieweit die bisherigen aktivistischen Interventionen ohne rechtliche Einbettung (diverse Graffiti oder die erst vor wenigen Tagen über die Statue gegossene blaue Farbe) bleiben oder aufwendig entfernt werden sollen, ist damit nicht berührt, es ist die Politik, die eine Reinigung vorsieht. Die Diskussion geht somit weiter, aber mit der Schräglage wird nun die Notwendigkeit der Auseinandersetzung auch im Denkmal sichtbar. Ob der Platz nach Lueger benannt bleiben soll, wird dann hoffentlich Teil einer zukünftigen Debatte werden. (Mechtild Widrich, 4.6.2023)