Aus wissenschaftlicher Perspektive läuft das europäische Weltraumjahr 2023 gut: Erst im April brach die europäische Raumsonde Juice erfolgreich ins All auf, um die Monde des Jupiters zu erforschen. Schon in wenigen Wochen steht der nächste Start einer wissenschaftlichen Mission bevor: Die Sonde Euclid soll mehr über die rätselhafte Dunkle Materie herausfinden. Aber auch zahlreiche längst aktive Missionen haben jüngst neue Entdeckungen und wissenschaftliche Publikationen gebracht, diesen Freitag feiert zudem die europäische Sonde Mars Express ihren 20. Geburtstag mit einem Livestream vom Roten Planeten

Dennoch steht Europa in Sachen Weltraum heute an einer kritischen Schwelle: Im All herrscht Aufbruchstimmung, angetrieben durch ambitionierte Weltraumnationen und private Unternehmen. Der Weltraum ist ein rasant wachsender Wirtschaftsfaktor, aber auch die sicherheitspolitische Relevanz nimmt stark zu. Am Freitag diskutierten Fachleute aus der Raumfahrt sowie Vertreterinnen und Vertreter aus Wirtschaft und Politik bei einer Konferenz in Wien über die Zukunft Europas im All. Josef Aschbacher, Direktor der Europäischen Weltraumorganisation (Esa), forderte dabei nicht weniger als eine "Revolution im All".

Esa-Generaldirektor Aschbacher (rechts im Bild) sprach sich auf einer Pressekonferenz mit Bundeskanzler Nehammer für ein eigenes europäisches Astronautentransportsystem aus.
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Warnung vor Abhängigkeit im All

Die europäische Raumfahrt sei in einigen Bereichen führend, etwa in der Erdbeobachtung und der Klimaüberwachung, sagte Aschbacher. Auch bei wissenschaftlichen Missionen sei man gut aufgestellt. "Aber in der Weltraumexploration, insbesondere in der astronautischen Raumfahrt, müssen wir dringend aufholen", sagte Aschbacher. Der 60-jährige Österreicher leitet die Esa seit März 2021. "Europa kann es sich nicht leisten zurückzubleiben", sagte Aschbacher. Drei Länder hätten derzeit die Fähigkeit, Astronautinnen und Astronauten in den Weltraum zu bringen: die USA, Russland und China. Auch Indien werde voraussichtlich in ein bis zwei Jahren dazu in der Lage sein. Europa müsse jetzt handeln, um einen eigenständigen Zugang zum Weltraum sicherzustellen. Das sei aus geopolitischen und wirtschaftlichen Gründen essenziell, "um von der boomenden Weltraumwirtschaft profitieren zu können und ein stärkerer Partner für die internationale Zusammenarbeit zu sein", betonte der Esa-Chef.

Auf rund 400 Milliarden Euro wird das Volumen der Weltraumwirtschaft aktuell geschätzt, bis 2040 könnte es eine Billion überschreiten. Um künftig wettbewerbsfähig zu sein und junge Talente zu halten, müssten jetzt strategische Schritte unternommen werden, sagte Aschbacher: "Die Weltraumexploration ist dabei die Speerspitze – sie ist enorm sichtbar und inspirierend, das wirkt sich auch auf viele andere Bereiche aus." Wie viel Geld Europa konkret investieren sollte, wollte Aschbacher nicht sagen. Derzeit würden verschiedene Szenarien ausgearbeitet, die Ergebnisse sollen beim nächsten Weltraumgipfel der Esa-Mitgliedsstaaten im November diskutiert werden. Durch das nahende Ende der Internationalen Raumstation (die ISS wird voraussichtlich nur noch bis 2028 betrieben werden) stelle sich die Frage, wie es für europäische Astronauten weitergehe. "Der Mond ist der nächste Schritt", sagte Aschbacher.

Sicherheitspolitische Fragen

Diskutiert wurden bei der Veranstaltung am Freitag auch die Ergebnisse eines im März veröffentlichten Expertenberichts, der vor europäischen Abhängigkeiten im All warnte und dringend größere Investitionen empfahl. "Die Kosten der Untätigkeit wären bei weitem höher als die notwendigen Investitionen, um Europa als starken und unabhängigen Weltraumakteur zu etablieren", heißt es in dem Dokument der "High Level Advisory Group", die Vorschläge für die Zukunft der Esa ausgearbeitet hat. Mit der Nationalratsabgeordneten und ÖVP-Bereichssprecherin für Weltraumforschung Therese Niss ist auch eine Österreicherin in der Gruppe vertreten.

Niss betonte am Freitag sicherheitspolitische Implikationen der Raumfahrt, die durch den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine auf drastische Weise sichtbar geworden seien. Der Krieg habe die enorme Relevanz von Anwendungen im Weltraum ebenso vor Augen geführt wie die Gefahr, die die Störung kritischer Weltrauminfrastruktur bedeuten würde. "Was wir uns in Europa wirklich fragen müssen ist, ob wir im All nur auf dem Beifahrersitz sitzen wollen oder selbst auf dem Fahrersitz", sagte Niss. Wichtig sei es für die Politik, transparent und offen zu kommunizieren, welchen Nutzen die Raumfahrt für die Menschen in Europa habe.

Nehammer: "Auf dem Mond zu landen ist kein Selbstzweck"

Auch für Renato Krpoun, Leiter des Swiss Space Office, stellt sich die Grundsatzfrage, ob Europa im Weltraum weiterhin Juniorpartner bleiben wolle, während sich die Raumfahrt immer stärker kommerzialisiere. "Das birgt neue Risiken: Am Ende könnten wir darauf angewiesen sein, Dienstleistungen zu kaufen, ohne dass sie einen Mehrwert für Europa schaffen. Außerdem könnten die Industrien benachteiligt werden. Und die Innovationszyklen werden immer schneller, unsere heutigen Partner könnten das Interesse an einer Partnerschaft verlieren, wenn wir das Tempo nicht halten können", sagte der Schweizer Weltraumchef.

Die Bedeutung der Raumfahrt für Österreich betonte auch Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) auf einer Pressekonferenz nach der Veranstaltung. Der Bereich sei für die heimische Wirtschaft und Wissenschaft wertvoll und biete große Chancen für die Zukunft. "Auch wir Europäer streben an, auf dem Mond zu landen, aber das ist kein Selbstzweck." Weltraumaktivitäten würden die Entwicklung von Technologien beschleunigen und auch wichtige Erkenntnisse für die Erde bringen. "Österreich ist weiterhin an einer engen Zusammenarbeit mit der Esa interessiert", sagte Nehammer und gratulierte der ebenfalls anwesenden künftigen österreichischen Esa-Reserveastronautin Carmen Possnig: "Wir sind stolz auf Sie." Die gebürtige Klagenfurterin Possnig war im Vorjahr in die 17-köpfige Astronautenklasse der Europäischen Weltraumorganisation (Esa) aufgenommen worden und hatte sich als einzige Österreicherin unter mehr als 22.500 Bewerbern durchgesetzt. (David Rennert, 2.6.2023)