Die Erdoğan-Fans in Österreich fühlen sich nicht gehört und sind von strukturellem Rassismus betroffen, argumentiert die Soziologin Faime Alpagu im Gastkommentar.
Im Mai 2024 ist es wieder so weit: Das Anwerbeabkommen zwischen Österreich und der Türkei jährt sich, dann wird es 60 Jahre her sein, dass die sogenannten Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter ins Land geholt wurden. Bevor es für die nächsten zehn Jahre wieder still darum wird, werden Veranstaltungen und Diskussionen über die Bedeutung des Abkommens organisiert werden. Das ist exemplarisch dafür, wie in Österreich über Migrationsthemen gesprochen wird: nur dann, wenn es ein Jubiläum gibt, oder, wie gerade wieder geschehen, wenn ein Thema aktuell "hochkocht". Das letzte Beispiel dafür ist die hohe Zahl an Menschen, die bei der Präsidentschaftswahl in der Türkei für Recep Tayyip Erdoğan gestimmt hat, und nun wollen plötzlich alle wissen, woran das liegen könnte. Für eine Antwort darauf muss man aber zurückblicken.
In den 1960er-Jahren wuchs die österreichische Wirtschaft und damit auch die Nachfrage nach Arbeitskräften. Die Türkei kämpfte damals mit wirtschaftlichen Problemen, die eine hohe Arbeitslosigkeit zur Folge hatten. Für die beiden Länder war das Anwerbeabkommen 1964 eine Win-win-Situation. Der Türkei brachte es Fremdwährung ins Land und Österreich gesunde, kräftige Arbeitskräfte.
Strenges Regime
Dieses Migrationsregime schuf aber einen Rahmen, der die Migrantinnen und Migranten selbst für den Prozess der Integration verantwortlich machte; dasselbe System ermöglichte nämlich nicht, dass sie in die Mehrheitsgesellschaft integriert wurden. Seit Beginn des Anwerbeabkommens wurde die selektive Migration auf Grundlage des wirtschaftlichen Nutzens von einer Politik begleitet, die durch hohe Hürden für die dauerhafte Niederlassung und den Erwerb der Staatsbürgerschaft gekennzeichnet war. Sukzessive wurden staatliche Mechanismen entwickelt, um die Migration zu regulieren. Viele Jahre sind seitdem vergangen, vieles hat sich geändert. Nicht geändert hat sich jedoch, dass dieses Regime die Migrationspolitik in Österreich bis heute prägt: Regelungen werden an den tagespolitischen Diskurs angepasst, und damit wird nur die Perspektive des Aufnahmelandes eingenommen.
Es lässt sich noch ein weiteres Phänomen beobachten. Die in Österreich lebenden Menschen fühl(t)en sich größtenteils sowohl in Österreich als auch in der Türkei als Fremde. Besser gesagt: Sie wurden zu Fremden gemacht. Schon zu Beginn des Anwerbeabkommens beklagten sie, von der Türkei und von Österreich im Stich gelassen worden zu sein. "Die Türkei hat uns wie eine Geldmaschine gesehen", erzählte mir einmal ein Gesprächspartner. Ihre Bedürfnisse wurden nicht berücksichtigt; mit den schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen und der Kinderbetreuung wurden sie allein gelassen. Dass sie kein oder nicht ausreichend Deutsch gelernt haben, kommt daher, dass es nicht verlangt wurde oder sogar nicht gewollt war, sich die Sprache anzueignen. Sie waren ja nur "Gast". Heute wird über diesen Umstand kaum gesprochen. In der Türkei wiederum wurden Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter abwertend und vor allem wegen ihres Konsumverhaltens als "Neureiche" belächelt, heute werden sie als "Ignoranten" bezeichnet und abgelehnt.
Kommen wir zurück zum Wahlverhalten bei der Präsidentschaftswahl. Eine häufige Erklärung ist, dass die Menschen tendenziell aus ländlichen, bildungsbenachteiligten und entsprechend konservativen Gebieten nach Österreich zugewandert sind. Doch das ist zu kurz gegriffen. Jahrelang hat sich die türkische elitäre Politik nur für die sunnitisch-türkischen Wählerinnen und Wähler, die gleichzeitig städtisch und bildungsprivilegiert sind, zuständig gefühlt. Das kann und konnte nicht lange gutgehen. Hinzu kommt, dass wegen des Kopftuchverbots an Universitäten und bei Behörden viele Frauen auf ihr Recht auf Studium und Berufsausübung verzichten mussten und die Türkei verließen. Diese Verletzung sitzt sehr tief in vielen Familien und wurde bisher nicht verarbeitet.
Strukturelle Ausgrenzung
In meiner Forschung über Lebensrealitäten der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter habe ich festgestellt, dass diese Generation – anders als medial dargestellt wird – offen und selbstkritisch ist. Sie ist ausgewandert, um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, musste aber feststellen, dass ein besseres Leben durch ökonomische Absicherung alleine nicht gewährleistet ist.
Die tief verankerte strukturelle Ausgrenzung führt dazu, dass Folgegenerationen aufgrund ihrer Hautfarbe und ihrer Namen diskriminiert und zu "Anderen" gemacht werden: in der Schule, im Berufsleben und im Alltag. Andererseits wird dieses Gefühl des Andersseins auch von Generation zu Generation weitergegeben. Die letzte Äußerung von Bundeskanzler Karl Nehammer etwa, dass es ein "Fehler" gewesen sei, Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter zu holen, wurde als sehr verletzend wahrgenommen und löste bei der Nachfolgegeneration große Empörung aus.
Breiter Diskurs
Was können wir tun? Es wäre wichtig, vom Diskurs "Sie sind von Haus aus konservativ und geben das einfach weiter" wegzukommen und stattdessen die Tatsache zu betrachten, dass es sich um Menschen handelt, die sich nicht verstanden und gehört fühlen und die von strukturellem Rassismus und Ausgrenzung betroffen sind. Tatsache ist, dass diese Menschen heute hier, in einem Land, in dem es Möglichkeiten der Weiterbildung und guten Ausbildung gibt, leben.
Als zum Beispiel 2018 die Kinder eines Moscheevereins die Schlacht von Çanakkale (im Deutschen als Schlacht von Gallipoli bekannt) nachstellten und dies in den Medien diskutiert wurde, beobachtete ich ein Gespräch zwischen zwei älteren Personen aus der Türkei. Der eine sagte: "Alle sind gegen die Türken", der andere: "Hm, aber sie sagen, dass das nicht gut für die Entwicklung unserer Kinder ist." Die Kunst besteht heute darin, die Menschen dort abzuholen, wo sie sind: mit langfristigen, nachhaltigen und niedrigschwelligen Maßnahmen, bei denen die Position der zweiten Person lauter diskutiert werden kann. (Faime Alpagu, 5.6.2023)