Gabriele Lesser aus Warschau

"Hier ist Polen! Hier, wo wir stehen, ist Polen", ruft Donald Tusk, früherer polnischer Premier und ehemaliger EU-Ratspräsident, der Menschenmenge auf dem Warschauer Plac na Rozdrozu – dem "Platz am Scheideweg" in der Nähe des Regierungssitzes – zu. In wenigen Minuten soll der große Marsch für Freiheit und Demokratie und gegen die Politik der nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) starten. Bis zu 500.000 Menschen sind nach Angaben der Opposition erschienen.

Auf dem roten Doppeldeckerbus steht auch Lech Wałęsa, Polens berühmter Anführer der Gewerkschafts- und Friedensbewegung Solidarność aus den 1980er- und 1990er-Jahren. Noch bevor der inzwischen 79-Jährige auch nur ein Wort sagen kann, skandiert die Menge schon: "Wir danken dir!" und "Wir werden siegen!". Ort und Tag der Demonstration sind stark symbolträchtig: Vor rund 40 Jahren, genau am 4. Juni 1989, errang Walesas Solidarność in ersten noch halbfreien Wahlen den ersten Sieg über ein kommunistisches Regime im damaligen Ostblock. Damals wie heute stehen die Polen wieder am Scheideweg: Der eine Weg führt mit der heutigen demokratischen Opposition zurück zur freiheitlichen Demokratie, der andere mit der Regierungspartei PiS weiter auf dem Weg in den autoritären Unrechtsstaat. Im Herbst dieses Jahres stehen in Polen Parlamentswahlen an.

Polens Ex-Premier und Ex-EU-Ratspräsident Donald Tusk und der frühere polnische Präsdient Lech Wałęsa bei der Demonstration.
REUTERS/Kacper Pempel

Sichtlich gerührt erinnert der heute weißhaarige Wałęsa an die Anfänge des polnischen Freiheitskampfs auf der damaligen Danziger Leninwerft. Erst hätten ihn Agenten des kommunistischen Staatssicherheitsdienstes auf Schritt und Tritt verfolgt, und Jahre später hätten PiS-Funktionäre versucht, ihm selbst eine Stasi-Vergangenheit anzuhängen. Er deutet auf sein T-Shirt mit der Aufschrift "Konstytucja – Verfassung", dreht sich zu den anderen Politikern um und sagt ins Mikrofon: "Schreibt in eure Programme 'Gewaltenteilung' und 'Beschränkung auf zwei Amtszeiten'! Nur so verhindert ihr, dass wir wie heute immer wieder neu um Freiheit und Demokratie kämpfen müssen."

"Dafür haben wir nicht gekämpft!"

Die Menschenmenge – nach Angaben der Veranstalter sind es eine halbe Million Polen und Polinnen – setzt sich bereits in Richtung Königsschloss in Bewegung. Viele schwenken polnische weiß-rote und blau-gelbe EU-Flaggen. Die 19-jährige Studentin Ania ist mit ihrer Mutter und Großmutter aus dem oberschlesischen Kattowitz angereist. "Wir haben uns spontan entschlossen, uns dem Marsch anzuschließen. Den Ausschlag hat das Auschwitz-Video der PiS gegeben. Denn uns als Nazis und SS-Leute beleidigen zu lassen, nur weil wir anderer Meinung sind als das PiS-Regime, das geht nicht!", sagt die Jusstudentin.

Ihre Mutter Katarzyna B. ist Richterin und über die Demontage von Demokratie und dem Rechtssystem in Polen entsetzt. "Wir am Gericht haben alle Angst, dass uns unser nächstes Urteil vor die PiS-Disziplinarkammer bringt und wir dann degradiert werden." Großmutter Elżbieta F. schüttelt den Kopf: "Dafür haben wir nicht gekämpft! Es sollte ein für alle Mal Ende sein mit der Parole 'Die Partei hat immer Recht!'. Und jetzt hat uns die PiS genau das wieder eingebrockt."

Wanda Traczyk-Stawska und Anna Przedpełska-Trzeciakowska unterstützten einst den Warschauer Aufstand und nun die Opposition.
EPA/LESZEK SZYMANSKI

Der 24-jährige Filip G. aus der Ostseestadt Danzig trägt ein selbstgemaltes Transparent mit einem stilisierten PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński hinter Gefängnisgittern. "Wir müssen dieser Verbrecherbande endlich zeigen, wo ihr Platz ist." Es könne ja wohl nicht sein, dass die PiS eine Untersuchungskommission beim Premier bilde, die politische Gegner als "russischen Agenten" diffamieren dürfe, die dann bis zu zehn Jahre lang kein politisches Amt mehr ausüben dürften – so wie das jüngst tatsächlich vorgeschlagen wurde. "Vielleicht ist es schon zu spät. Wenn die EU nicht eingreift, werden bei den nächsten Wahlen im Herbst nur noch PiSler antreten. Denn potenziell sind wir alle hier in den Augen der PiS entweder SS-Leute oder russische Agenten." Er schüttelt sich voller Abscheu: "Dieses Auschwitz-Video – einfach widerlich!"

Der Bauer Ewald P. (62) ist mit einer ganzen Gruppe aus Podlachien angereist. "Wir leben vielleicht am Ende der Welt, aber nicht hinter dem Mond." Es schließen sich immer mehr Landwirte den 'Betrogenen Bauern' an." Seine Frau Maria (58) fällt ihm ins Wort: "Wir leben von unserer Hände Arbeit und sind stolz darauf. Uns aber von den EU-Zuschüssen abzuscheiden und uns dafür mit einem lächerlichen Kindergeld abzuspeisen – das sind Machenschaften, die wir von den Kommunisten kennen. Unser Dorf sagt dazu 'Dosc!' – Wir haben die Nase voll. Es reicht!" (Gabriele Lesser aus Warschau, 4.6.2023)