Die Golden Roof Challenge in Innsbruck zählt bei den Athleten zu den beliebtesten Bewerben der Stabhochsprungsaison. Für den Tiroler Riccardo Klotz ist es ein Heimspiel.
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Der Laptop von Riccardo Klotz könnte auch einem Buchhalter oder einem Physiker gehören. Excel-Tabellen, Diagramme, Formeln – für nicht Eingeweihte eine Flut an Fragezeichen. Der 24-Jährige wechselt mit der Fingerfertigkeit eines Call of Duty-Profis zwischen den Fenstern, zeigt, erklärt, beschreibt. Riccardo Klotz ist – wie könnte es anders sein – Österreichs bester Stabhochspringer.

Österreich ist keine Stabhochsprungnation. Seitdem Hermann Fehringer 1991 mit 5,77 Metern seinen Rekord aufstellte, war Flaute. Zehnkämpfer wie Dominik Distelberger nahmen im Vorbeispringen Staatsmeistertitel mit, in manchen Jahren sprang kein Österreicher höher als fünf Meter. Vergangenen Juli schaffte Klotz in Graz 5,65 Meter – und angesichts seiner 24 Jahre dürfte das noch nicht das Ende sein.

Aber zurück zum Laptop. Was hier drinsteht, soll Klotz auf 5,80 und höher bringen. "Der Papa schimpft immer, dass ich nicht so viel planen soll", sagt er und lacht. Der Papa, das ist auch der Trainer. In einer Excel-Tabelle hat Klotz Zeilen für jeden messbaren Teil seines Sprunges: So schnell ist der Anlauf, so hoch ist die Griffhöhe, so lang der Stab, dazu gibt es natürlich eine Kategorie, an der noch getüftelt wird. Für jeden dieser Werte hat Klotz mittel- und langfristige Entwicklungsziele. Eine Formel kombiniert das zur erwartbaren Höhe. Derartige Übersichten seien in der Leichtathletik nicht unüblich, sagt Klotz, aber: "Ich studiere Sportwissenschaften, da passt es gut rein. Ich bin oft mein eigenes Experiment."

Wer sich in einem so komplexen Sport wie dem Stabhochsprung steigern will, kann nicht einfach nur mehr Kniebeugen machen. "Stabhochsprung ist nur Physik. Wenn ich mehr Energie in den Stab bringe, kriege ich auch mehr Energie raus. Wenn ich das nicht tue, war irgendwo in dem Bereich ein Problem." Klotz spricht von Energiebilanzen, von Joule pro Kilogramm, von potenzieller Energie. Er macht aus 54 J/kg Anfangsenergie im Zuge des Aufrollens am Stab 56 J/kg. Auf dem Laptop zeigt er Berechnungen eines anderen Springers: gleiche Anfangsenergie, aber 62 J/kg Endenergie auf dem Gipfel des Sprunges. "Wenn ich aggressiver aufschwinge und mehr mit den Armen arbeiten kann, sodass bei mir auch diese Differenz rauskommt, dann springe ich auch sechs Meter."

Abwägungssache

Die Kunst sei es, an den richtigen Details zu arbeiten. Anlauftempo, Stablänge und -härte geben das maximale Potenzial vor; wie viel davon ausgeschöpft wird, bestimmt die Technik. "Wenn ich noch schneller hinlaufe, wird es schwieriger, technisch effizient zu sein", sagt Klotz. Oft sei schwierig einzuschätzen, ob die gewählte Baustelle die richtige ist: "Zum Beispiel versuchst du eine andere Position beim Aufrollen, zögerst aber ein bisschen, weil du es nicht gewohnt bist. Also stimmen die Ergebnisse nicht."

Warum eigentlich Stabhochsprung? "Es war was Anderes, es hat sonst keiner gemacht – und es hat den Tüftleraspekt. Das liegt mir sehr", sagt Klotz. Bis zum zwölften Geburtstag gibt es nur Stabweitsprung, dann geht es in die Höhe: "Es hat mich schnell fasziniert." Klotz war wie die meisten Stabhochspringer ein Spätentwickler, in populäreren Disziplinen wie dem Sprint können sich diese nicht durchsetzen. "Es macht keinen Spaß, wenn du jeden Tag hingehst und aufs Maul kriegst. Als Kind will man etwas machen, bei dem man gut ist." Im Stabhochsprung brauche man Geduld und koordinative Grundlagen. "Wenn du in einem Jahr hinkriegst, dass du den Stab tragen kannst und er sich biegt, ist schon gut was weitergegangen."

Auch im Erwachsenensport braucht ein Stabhochspringer Geduld. "Zeitweise ist es ein ...", fängt Klotz an und zögert. "Ich will nicht 'fade Sportart' sagen. Du musst einfache Sachen besser machen als andere. Die Topleute machen im Training das Gleiche wie ich." Immerhin sei das Training durch die unterschiedlichen Sprint-, Sprung-, Kraft- und Turnübungen abwechslungsreich. "Aber so ist Leistungssport: Wenn du es 15 Jahre gemacht hast, hast du irgendwann alles gesehen." Klotz schätzt, dass er zwischen 15.000 und 17.000 Sprünge in den Beinen hat. Das werde ihm in der jüngeren Vergangenheit vermehrt bewusst: "Wenn es nicht läuft, kommt oft der Gedanke: He, ich mach‘ das zwölf Jahre, es gibt nichts, was ich so beherrsche wie das. Das fühlt sich schon geil an. Umgekehrt ist das Gefährliche, dass du dir an manchen Tagen denkst: Junge, du hast das 17.000 Mal gemacht und kannst es immer noch nicht, du bist so ein Idiot." Nachsatz: "Die Balance hält sich."

Vorbild Schildkröte

Hört man Klotz in seiner Innsbrucker Trainingshalle stundenlang von seinem Sport sprechen, während daneben eine Kindergruppe spielt und junge Sportstudierende erste Stabhoch-Versuche machen, erlebt man einen Ambitionierten, der auch ein bisschen sein eigener Coach ist. Klotz ist immer auf der Suche nach der nächsten Optimierung, hinterfragt dabei auch sich selbst. "Der Datenweg und die Zahlen sind cool, aber viele sagen, dass es ihnen nichts bringt. Die haben fünf Basiszahlen und den Rest machen sie nach Gefühl." Klotz will von der Schildkröte lernen, sagt er und zitiert eine Metapher: Die schwimmt im Meer schneller als ein Mensch, weil sie gegen die Welle nur gerade so viel Energie verschwendet, dass sie nicht zurückgeschwemmt wird. Wenn die Welle mit ihrer Richtung geht, schwimmt sie schnell. "Wenn es bei mir an einem Tag gar nicht geht, mache ich es nochmal und nochmal – obwohl die Welle gegen mich ist. Das ist für mich die Schwierigkeit, zu lernen: Heute ist nicht dein Tag, geh' heim."

Wird Übertrainieren im Sport zu sehr glorifiziert, wird der Schritt zurück unterschätzt? "Je nach Sportart", sagt Klotz. "Freiwürfe werfen kann ich, egal wie kaputt ich bin. Aber du bist nicht sprungfähig, wenn du müde bist. Dann wird es nur gefährlich, und du wirst dich nicht weiterentwickeln." Da man Wettkämpfe nicht verschieben könne, müsse man aber auch das Durchbeißen im Training lernen. Laut Klotz geht die Leichtathletik generell weg vom harten Arbeiten, "weil es der größte Fehler ist". Es gehe darum, die guten Tage zu nutzen. "Das war eine lange Entwicklung, dass ich das gelernt habe."

Ein Training auszulassen und sich um Privates zu kümmern ist laut Klotz oft die richtige Entscheidung. "Das Bewegungsgefühl hängt eng mit dem Lebensgefühl zusammen. Du wirst keinen Sportler finden, der in einer Lebenskrise ist und Topleistungen bringt." Damit tat sich der Perfektionist früher schwer. "Ich hatte das Gefühl: Je weniger Spaß ich habe, desto besser bin ich."

Durchlaufphasen

Freilich gibt es weiterhin schwierige Zeiten. "Es gibt viele Phasen, wo ich durchlaufe. Du läufst an, lässt den Stab los und rennst auf die Matte." Die erste dieser Durchlaufphasen löste Kira Grünbergs Unfall aus, in ihrer Trainingsgruppe hatte Klotz seine ersten Sprünge gemacht. Zwei Tage nachdem die um fünf Jahre ältere Tirolerin verunfallt war, holte Klotz bei den europäischen Jugendspielen in Tiflis eine Medaille. "Ich habe mir leichter getan als andere aus unserer Gruppe, weil ich noch so jung war. Aber es hat eine Suche nach Sicherheit ausgelöst. Wir diskutieren auch jetzt noch, ob es unterbewusst ein Thema ist, weil ich eher ein sicherer Springer bin." Aber seine Rationalität helfe Klotz, die real sehr niedrige Gefahr eines derartigen Unfalls richtig einzuschätzen. "Es ist für mich jetzt kein Thema."

Ein Thema ist dagegen der österreichische Rekord. Die 5,77 Meter scheinen angesichts der bisherigen Saisonbestleistung von 5,35 Metern weit weg, aber es könnte schnell gehen. Man denke nur an die potenzielle Energie. Am Mittwoch springt Klotz sein erstes Saisonhighlight, bei der Golden Roof Challenge vorm Goldenen Dachl tritt er gegen Athleten aus der erweiterten Weltspitze an. Der Laptop wird dabei sein. (Martin Schauhuber, 5.6.2023)