Eine rationale Wahl? Die Delegierten beim SPÖ-Parteitag gaben jenem Kandidaten den Vorzug, der mehr an das Hirn als an Herz und Bauch appellierte.
Heribert Corn

Es lief nicht alles glatt für Hans Peter Doskozil bei seinem Parteitagsauftritt in Linz. Rasch hatte der SPÖ-Chef in spe in freier Rede die erlaubten 45 Minuten aufgebraucht – für so wichtige Themen wie Klima und Migration blieb keine Zeit mehr. Als dann Rivale Andreas Babler eine mitreißende Ansprache ablieferte, schien eine Niederlage nicht ausgeschlossen.

Doch es hat gereicht. Was den Ausschlag gab? Aus vielen Gesprächen mit Sozialdemokraten vor und nach dem Tag X kristallisieren sich mehrere Erklärungen heraus.

VIDEO: Kogler hofft auf "Stabilität durch Doskozil"
DER STANDARD

Strategisches Kalkül

Julia Herr, die mutmaßlich aufsteigende Frau in der Partei, brachte die Gemütslage vieler Genossinnen und Genossen auf den Punkt: Bauch und Herz sprächen für Babler, der Kopf empfehle aber Doskozil. Festmachen lässt sich diese Einschätzung zuallererst an einer Erwartung: In den Augen seiner Anhänger ist nur der burgenländische Landeshauptmann in der Lage, der SPÖ die 2017 verloren gegangene Kanzlerschaft zurückzuerobern.

Doskozil hat diese Botschaft mit langem Atem aufgebaut. Bereits im Herbst ließ sein Team eine Umfrage veröffentlichen, laut der er bei Mitte-rechts-Wählern stärker punkten könne als die damals amtierende Pamela Rendi-Wagner. Das ist essenziell, denn nur so scheint eine Mehrheit gegen Schwarz-Blau denkbar. Ein Linkskandidat wie Babler hingegen, so die Theorie, werde lediglich von Grünen und Neos Stimmen gewinnen – mit einer Koalition von ÖVP und FPÖ als Folge.

Von Max Lercher bis Christian Kern haben Doskozils Unterstützer diese Erzählung konsequent präsentiert – sodass sie in immer mehr roten Köpfen verfing.

Bablers extreme Seite

Erst verstrickte sich Doskozils Rivale in einer Debatte über seine marxistische Prägung, die ihn zu altpolitikerartigem Herumeiern zwang. Dann machte ein Video die Runde, in dem Babler noch vor drei Jahren die Europäische Union als "das aggressivste außenpolitische militärische Bündnis, das es je gegeben hat", bezeichnete.

Das sorgt nicht nur aus inhaltlichen Gründen für Schaudern. Kaum auszudenken, was auf die SPÖ mit einem Spitzenkandidaten Babler erst in einem Nationalratswahlkampf zuzukommen droht, wird sich so mancher SPÖ-Delegierter gefragt haben. In lebhafter Erinnerung blieb, wie einst Alfred Gusenbauer ein Foto von einem ironisch gemeinten Bodenkuss auf dem Roten Platz in Moskau um die Ohren flog. Von Babler, meinen Argwöhnische, wird es aus sozialistischen Jugendzeiten nicht an Fotos vor kommunistischen Denkmälern mangeln.

Doskozils Handwerk

Dass Babler Anhänger zu begeistern vermag, hat er nicht erst in Linz bewiesen. Doch in den Ohren abwägender Funktionäre klingt die Verheißung eines roten Aufbruchs aus dem Mund eines Kleinstadtbürgermeisters doch wohl auch ein Stück weit nach Utopie. Wenn hingegen Doskozil davon spricht, dem Staat wieder mehr Gewicht verleihen zu wollen, kann er zumindest auf Bundeslandebene bereits handfeste Ergebnisse vorweisen.

Die Jahre als Verteidigungsminister und Landeshauptmann verleihen ihm Erfahrung, auch im Umgang mit den Medien. Dass Politik nicht zuletzt Handwerk ist, hat die Partei aus unsouveränen Auftritten Rendi-Wagners gelernt. Babler hatte bundespolitische Interviews bisher hauptsächlich in der bequemen Rolle des Parteirebellen erlebt, in der nun heikleren Situation wirkte er nicht immer sattelfest. Mitunter kam er wie einer rüber, der sich leicht um Kopf und Kragen redet.

Asyl- und Ausländerfrage

Beim Werben um den Zuspruch der Sozialdemokraten hat Doskozil das Reizthema nicht gepusht. Doch es ist anzunehmen, dass die Haltung in der – salopp ausgedrückt – "Ausländerfrage" für seine Anhängerschaft eine wichtige Rolle gespielt hat. Der Ex-Polizist verkörpert das Versprechen, dass die SPÖ Probleme in Sachen Asylwerber und Integration deutlicher anspricht und entschlossener angreift, als dies in der Vergangenheit offenbar der Fall war. Einen Boden dafür gibt es selbst in der Babler-Hochburg Wien, wo sich am Parteitag Vertreter von Flächenbezirken wie Donaustadt und Simmering gegen die Linie von Bürgermeister Michael Ludwig zum Beifall für Doskozil erhoben. Dem Vernehmen nach vermisst so mancher Genosse strengere Signale vonseiten der eigenen Stadtregierung.

Vorteil fürs Establishment

Aus gutem Grund hat Babler für eine Stichwahl unter den Mitgliedern gekämpft: Mit seinem roten Nostalgietrip hätte er an der Basis große Chancen auf den finalen Sieg gehabt. Doch Parteitagsdelegierte – Mandatare, Bürgermeister, Funktionäre – ticken anders. Strategische Überlegungen spielen eine größere Rolle, und im Zweifelsfall gilt: Establishment wählt eher Establishment als den Außenseiter.

Wer zum Apparat der SPÖ zählt, lässt sich ungern von einer "Twitter-Blase", wie sie Babler so sehr gehypt hat, belehren. Mehr Eindruck hat trotz gewachsenen Selbstbewusstseins des Parteivolks wohl eine andere Empfehlung hinterlassen: Sieben von neun Landesparteichefs haben sich für Doskozil ausgesprochen. (Gerald John, 4.6.2023)