Das EU-Recht spielt nicht nur bei der Harmonisierung nationaler Gesetze in den Mitgliedsstaaten eine zentrale Rolle. Es kann auch extraterritoriale Wirkung entfalten und Entitäten mit Sitz außerhalb der EU erfassen. Gerade im Umwelt- und Klimaschutz sowie bei den Menschenrechten – Arbeitnehmerschutz, Verbot von Kinderarbeit – übernimmt die EU zusehends die Rolle eines Trendsetters und setzt Standards, die wesentlich höher sind als etwa in den USA oder in China.

Ein gutes Beispiel dafür ist die EU-Lieferkettenrichtlinie (Corporate Sustainability Due Diligence Directive, CSDD-RL), die noch heuer vom Europäischen Parlament und vom Rat verabschiedet werden soll. Die CSDD-RL enthält eine Verpflichtung für die von ihr erfassten (großen) Unternehmen, einen Verhaltenskodex mit Sorgfaltspflichten in den Bereichen Menschenrechte und Umwelt zu erstellen und dessen Einhaltung in Bezug auf direkte und indirekte Geschäftsbeziehungen entlang einer gesamten Lieferkette sicherzustellen. Durch Vertragskaskaden werden die Verpflichtungen an kleine und mittlere Unternehmen innerhalb und außerhalb der EU, die Teil der Lieferkette sind, weitergereicht.

In Deutschland, wo ein Lieferkettengesetz bereits in Kraft ist, wird lautstark nach einer EU-Richtlinie verlangt. Dies würde auch den chinesischen E-Auto-Hersteller Nio betreffen, der mit Shell kooperiert.
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Die CSDD-RL ist auch für die Umsetzung des Europäischen Klimagesetzes relevant, das entsprechend dem European Green Deal und dem Pariser Übereinkommen die Klimaneutralität bis 2050 anstrebt. Davon erfasste Unternehmen in und außerhalb der EU müssen einen Plan erstellen, der sicherstellt, dass ihr Geschäftsmodell mit den Klimazielen vereinbar ist. Insofern die Unternehmenstätigkeit klimarelevant ist, sind Emissionsreduktionsziele gefordert.

Logischerweise muss sich diese Verpflichtung auch auf die internationalen Lieferketten eines Unternehmens beziehen. Alles andere wäre als Greenwashing einzustufen, was Klimaklagen auslösen könnte, wie sie bereits gegen einige Mineralölkonzerne anhängig sind. Greenwashing kann erhebliche Reputationsverluste verursachen, die zu Vermögensschäden sowie zur Vertragsbeendigung und zur Entfernung aus der Lieferkette führen können.

Im Rahmen der EU-Nachhaltigkeitsberichterstattungsrichtlinie, die bis Mitte 2024 von den Mitgliedsstaaten umgesetzt werden muss, sind von der EU-Kommission in nächster Zeit detaillierte BerichtStandards zu erlassen. Nach mehrjähriger Übergangsfrist werden auch Nicht-EU-Entitäten Nachhaltigkeitsberichte auf deren Basis veröffentlichen müssen, wenn sie bestimmte Umsatzschwellen in der EU überschreiten und über eine Tochtergesellschaft oder eine Zweigniederlassung in der EU verfügen.

Auch indirekte Emissionen

Die neuen EU-NachhaltigkeitsStandards werden voraussichtlich auch Informationen zu sogenannten Scope-3-Emissionen beinhalten, die von entscheidender Bedeutung für das Erreichen der Klimaneutralität sind. Sie umfassen die indirekten CO2-Emissionen eines Unternehmens entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Diese fallen meist drastisch höher aus als die direkten Emissionen. So liegt etwa bei Shell der Anteil der Scope-3-Emissionen an Shells Gesamtemissionen bei 90 Prozent.

Die hohe Signifikanz des EU-Rechts sowie seine Auswirkung auf Nicht-EU-Entitäten zeigt sich gut an folgendem Beispiel: Unter den chinesischen Elektroautoherstellern, die auf den EU-Markt drängen, ist auch Nio. Der Konzern hat in München ein globales Designzentrum errichtet. Da Nio auch an der New York Stock Exchange notiert, ist jährlich ein Bericht zu veröffentlichen. Darin wird bestätigt, dass Nio mit Verhaltenskodizes operiert, die zentrale Nachhaltigkeitsthemen behandeln. Nios Zulieferer würden zudem vertraglich zur Einhaltung dieser Standards verpflichtet. Im selben Bericht steht allerdings auch, dass Nio seine Geschäftspartner entlang der Lieferkette nicht kontrolliert, weshalb nicht garantiert werden könne, dass die Zulieferer sich tatsächlich an Nios Standards halten.

In einer Autofabrik in Hefei in der chinesischen Provinz Anhui wird ein Nio-Fahrzeug fertiggestellt. Der chinesische Konzern kooperiert auch mit Shell in Europa.
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So wie die meisten anderen Unternehmen legt auch Nio seine Scope-3-Emissionen nicht offen. Das ist angesichts der Tatsache von größtem Interesse, dass Nio mit Shell beim Ausbau von Ladesäulen und Batteriewechselstationen in Europa und China kooperiert. Shell wurde aber in den Niederlanden durch ein Gerichtsurteil verpflichtet, seine CO2-Emissionen – inklusive Scope-3-Emissionen – bis 2030 weltweit um 45 Prozent gegenüber 2019 zu reduzieren.

Eine Geschäftsbeziehung mit einem Unternehmen, das seine Lieferanten nicht kontrolliert, ist für Shell im Hinblick auf Scope-3-Emissionen daher brisant. Gerade durch die Produktion von E-Auto-Batterien können erhebliche CO2-Emissionen entstehen: Man denke nur an den aufwendigen Abbau der für Batterien essenziellen Rohmaterialien. Zudem kommt es bei der Batterieproduktion auch ganz besonders auf die verwendeten Energiequellen an. Obwohl sich die Situation in China stetig verbessert, erfolgt die Energieerzeugung immer noch zum größten Teil aus fossilen Quellen.

Regelmäßige Prüfung

Shell wird als EU-Entität von den EU-Richtlinien erfasst. Früher oder später dürfte auch Nio die Umsatzschwelle von jährlich 150 Millionen Euro in der EU überschreiten, womit es auch dem EU-Recht unterliegt. Als Folge müsste Nio dann seine Zulieferer regelmäßig kontrollieren, etwa mit der Hilfe unabhängiger Wirtschaftsprüfer.

Dass die strengen EU-Regelungen auch Nicht-EU-Gesellschaften direkt oder indirekt betreffen, sollte kompetitive Nachteile für EU-Unternehmen entschärfen. Unternehmen aus Drittstaaten werden die EU-Nachhaltigkeitskriterien einhalten müssen, wenn sie ihre Waren in der EU vertreiben wollen oder Teil einer EU-Lieferkette sind. So kann die EU zu einem weltweiten Vorreiter für Umwelt- und MenschenrechtsStandards werden und entscheidend zur verbindlichen Umsetzung des Pariser Abkommens beitragen. (Adolf Peter, 5.6.2023)