Sebastian Borger aus London

Nichts lieben englische Juristen so sehr wie sprachliche Eleganz, gepaart mit gepflegtem Understatement. "Ein bisschen überrascht" gab sich Richter Timothy Fancourt am Montag im Londoner High Court über das Fehlen seines ersten Zeugen. "A little surprised"? Der 58-Jährige dürfte vor Wut gekocht haben, dass ihm ausgerechnet der Beschwerdeführer im Zivilverfahren Harry Windsor gegen das MGN-Medienhaus am Eröffnungstag nicht zur Verfügung stand. Prinz Harry habe am Sonntag noch den zweiten Geburtstag seiner Tochter Lilibet mitfeiern wollen, ehe er sich auf den Weg in die Heimat machte – diese Erläuterung des prinzlichen Advokaten wischte der Richter beiseite: "Da kann man wohl nichts machen."

Der Anwalt der beklagten Boulevardblätter "Mirror", "Sunday Mirror" und "People" kosteten die peinliche Situation weidlich aus. Er sei "zutiefst verstört", behauptete Kronanwalt Andrew Green: Es handle sich um ein "absolut außergewöhnliches" Verhalten.

Illegale Praktiken

Wirklich außergewöhnlich bleibt die Tatsache, dass es überhaupt zu dem Verfahren gekommen ist. Dass die überaus robusten britischen Boulevardzeitungen lange Jahre eine Abart des Boulevardjournalismus pflegten, ist seit mindestens einem Jahrzehnt bekannt. Damals musste Medienzar Rupert Murdoch seine Wochenzeitung "News of the World" schließen. In der eilends von der Regierung angeordneten unabhängigen Untersuchung des Lordrichters Brian Leveson sowie mehreren Strafprozessen kamen widerwärtige Praktiken zur Sprache: der Psychoterror gegen die eigenen Journalisten, die systematische Demütigung und Bloßstellung politischer Gegner, die bedenkenlose Korrumpierung von Polizisten – und immer wieder illegale Praktiken.

Prinz Harry Gerich
Prinz Harry ist am Montag nicht vor Gericht erschienen.
Reuters/Hannah McKay

Seither haben dutzende Betroffene, meist Prominente, Zivilverfahren gegen die Boulevardpresse angestrengt und sich in Vergleichen gegen Zahlung häufig sechsstelliger Summen ihr Schweigen erkaufen lassen. Dazu zählte 2020 auch der Thronfolger. Prinz William habe gegen Zahlung einer "sehr hohen Summe" eine geheime Vereinbarung mit der Murdoch-Firma NGN ("The Sun") getroffen: Diese unwidersprochene Behauptung verdankt die Öffentlichkeit ausgerechnet Williams Bruder Harry.

Dessen Abkehr vom Königshaus hat, wie aus den diversen Interviews und seinem Memoirenband "Reserve" hervorgeht, nicht zuletzt mit dem Verhältnis zu den Medien zu tun. Immer wieder hat Harry seit seinem Umzug nach Amerika den Windsors übergroßes Entgegenkommen vor allem gegenüber den Londoner Boulevardblättern vorgeworfen. Das vielzitierte Königshaus-Motto "keine Erklärung, keine Beschwerde" gegenüber den Medien sei Unsinn: "Es wird dauernd erklärt und reklamiert." Notfalls mache man sich im Palast auch mit saftigen Enthüllungen über ungeliebte Verwandte bei den Zeitungen lieb Kind. Dass seine Gattin Meghan mit dem royalen Leben nicht zurechtkam, habe damit zu tun, glaubt Harry: "Meine Familie hat sich zum Komplizen gemacht in dem Leidensprozess meiner Frau."

Sympathie für Harry

Kritische Beobachter wie die Charles-Biografin Catherine Mayer lassen Sympathie erkennen für die Haltung des kalifornischen Prinzen, der in britischen Medien überwiegend als querulantischer Prozesshansl dargestellt wird. Harrys Auftritt im Zeugenstand werde sehr deutlich machen, "wie die Presseabteilung des Palastes mit den Medien umgeht".

In jedem Fall ist die Entschlossenheit des Beschwerdeführers zur öffentlichen Aussage beispiellos in der Geschichte der britischen Royals. Kein Vergleich etwa mit dem Verfahren vor 132 Jahren, als der damalige Thronfolger, der spätere König Eduard VII., als Zeuge in einem Spielskandal aussagen musste. "Der wurde überaus pfleglich behandelt", erläuterte Medienanwalt Mark Stephens der BBC. Hingegen werde das überaus feindliche Kreuzverhör durch "Mirror"-Anwalt Green von diesem Dienstag an "gewiss sehr unangenehm" sein.

"Depression und Paranoia"

Zeile für Zeile wird sich das Gericht mit 33 von insgesamt 140 Artikeln befassen, welche die drei Zeitungen zwischen 1996 und 2010 veröffentlicht haben. Die darin enthaltenen Informationen hätten die Blätter nur durch höchst dubiose oder illegale Methoden erhalten können, lautet Harrys Vorwurf: Reporter sollen Telefonanrufe und Mailbox-Nachrichten abgehört, zudem Privatdetektive zu weiterreichenden Recherchen angestiftet haben. Der Prinz habe "gewaltige Anfälle von Depressionen und Paranoia" erlitten, heißt es im Schriftsatz seines Anwalts David Sherborne. Die andauernde Verletzung der Privatsphäre habe seine damalige Freundin Chelsy Davy zur Beendigung der Beziehung veranlasst, "was damals unglaublich schlimm" gewesen sei.

Dass beim "Mirror" ebenso wie in anderen Zeitungen verwerfliche Praktiken üblich waren, ist bereits gerichtsnotorisch. Für MGN geht es jetzt um die Abwendung eines anhaltenden Rufschadens und der damit verbundenen Finanzeinbußen. Ähnlich verfahren andere Medienhäuser wie der Verlag Associated Newspapers ("Daily Mail", "Mail on Sunday"), die Harry ebenfalls verklagt hat. Denn das MGN-Verfahren ist Teil einer umfassenden Offensive des Prinzen und seiner Frau Meghan, die sich nichts weniger als die Zähmung der britischen Boulevardzeitungen aufs Panier geschrieben haben. "Recht ambitioniert", würde Richter Fancourt dazu wohl sagen. (Sebastian Borger aus London, 6.6.2023)