Nächste Woche am Donnerstag wird die Europäische Zentralbank (EZB) wohl neuerlich die Zinsen erhöhen. Es wird ein Schritt um einen Viertelprozentpunkt beim Leitzins auf dann vier Prozent erwartet, denn im Kampf gegen die hohe Teuerung muss sie noch nachlegen, um ihre Zielmarke von mittelfristig bloß zwei Prozent zu erreichen. Zwar nimmt der Preisauftrieb in der Eurozone langsam ab, er liegt aber mit 6,1 Prozent immer noch meilenweit über der Zielmarke. Wobei die Notenbank selbst damit rechnet, dass die Teuerung erst im dritten Quartal 2025 wieder zwei Prozent erreichen wird.

EZB-Chefin Christine Lagarde will "entschlossen und unbeirrt" das zweiprozentige Inflationsziel ihres Hauses verfolgen.
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Diese Erwartung teilt der deutsche Ökonom Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), nicht. Vielmehr geht er davon aus, dass "wir über die nächsten fünf bis zehn Jahre nicht dauerhaft bei zwei Prozent landen werden", sagte er bereits im April. Höhere Teuerungsraten seien Ausdruck der neuen Realitäten: "Wir werden weniger Arbeitskräfte und mehr Rentner, mehr Nachfrage als Angebot haben. Ein Problem ist das nur für Zentralbanken, die ein Zwei-Prozent-Ziel gesetzt haben und nun damit umgehen müssen", betonte Fratzscher.

Weniger Kontrolle

Nun setzt er nach und legt der EZB nahe, "ihr quantitatives Inflationsziel daher besser aufzugeben", schreibt Fratzscher in einem Gastbeitrag für das Handelsblatt. Pandemie, Energiekrise und Bankenprobleme zeigten das Ausmaß, in dem Zentralbanken die Kontrolle über ihr Mandat der Preisstabilität verlören. Zeiten multipler Krisen in einer zunehmend global vernetzten Wirtschaft erforderten ein Umdenken. Die US-Notenbank Fed habe etwa mit ihrem dualen Mandat von Preisstabilität und Vollbeschäftigung mehr Flexibilität als die EZB. Klüger wäre es, diese würde ihr quantitatives Inflationsziel aufgeben und Finanzstabilität stärker in ihrer Strategie verankern.

Auch eine Inflationsrate von beispielsweise drei Prozent sei wirtschaftlich nicht schädlich, solange die Währungshüter kommunizierten, dass sie damit einverstanden seien und sich wirtschaftliche Akteure darauf verlassen könnten. "Je früher die Zentralbanken damit beginnen, desto besser", fordert Fratzscher eine Anpassung der geldpolitischen Strategie.

Aber wäre ein solcher Kurswechsel derzeit überhaupt sinnvoll? Der Tenor heimischer Volkswirte ist eindeutig: Nein. Warum? Würde die EZB ihr Inflationsziel anpassen, während die Teuerung stark darüber liegt, würde sie ihre Glaubwürdigkeit untergraben. "Damit würde man die Glaubwürdigkeit mehr schädigen, als wenn man das Inflationsziel längerfristig verfehlt", sagt Wifo-Ökonom Thomas Url. Bei der EZB habe es erst 2021 einen Strategiewechsel gegeben. Damals wurde der Zielwert für die Teuerung von "knapp unter" auf "mittelfristig" zwei Prozent angepasst.

Allerdings pflichtet er Fratzscher grundsätzlich bei, dass drei Prozent als Zielwert für die Wirtschaft unproblematisch seien, solange es kommuniziert und danach gehandelt werde. Gemäß Studien aus den USA seien drei Prozent tendenziell auch leichter anzusteuern als zwei Prozent Teuerung. Bedarf für eine Anhebung sieht Url aber keinen.

"Ökonomisch interessant"

"Das ist ein Vorschlag, der ökonomisch interessant ist", sagt Stefan Bruckbauer, Chefvolkswirt der Bank Austria, über den Vorstoß Fratzschers. Die Zeiten einer Deflationsgefahr wie in Japan seien vorbei, da sei es künftig wichtig, mehr Flexibilität zu haben. "Es kann nicht das Ziel sein, die Wirtschaft so stark abzukühlen, bis man genau zwei Prozent Inflation erreicht", ergänzt er. Dennoch, derzeit hält Bruckbauer eine Strategieänderung für nicht umsetzbar, zudem würde es der Glaubwürdigkeit schaden.

Das sieht auch Hanno Lorenz von der wirtschaftsliberalen Agenda Austria so. Er verweist darauf, dass die Inflationserwartungen im Euroraum auf fünf Jahre über dem zweiprozentigen Zielwert liegen. Diesen jetzt anzuheben wäre "ein ganz schlechter Zeitpunkt". Zudem kritisiert er, dass eine Erhöhung des Zielwerts auch "sozialpolitisch nicht unproblematisch" sei. Warum? Weil Inflation stets Haushalte mit geringem Einkommen an stärksten treffe. Lorenz mutmaßt außerdem, dass der Vorstoß Fratzschers auch "politische Zwecke" verfolgen könne, um Staatsfinanzierung durch tendenziell tiefe Zinsen zu erleichtern. (Alexander Hahn, 6.6.2023)