Irgendetwas stimmt nicht, das ist schon am späten Montagvormittag klar. Der Fahrer von Hans Peter Doskozil steigt in sein Auto vor dem burgenländischen Landhaus. Ob er seinen Chef abholt, ruft ihm der Kollege vom ORF-Politikmagazin "Report" zu. Keine Antwort. Um 11.30 Uhr sollte der neue SPÖ-Chef und burgenländische Landeshauptmann dem STANDARD ein Interview geben, der "Report" hatte davor seinen Slot. Uns wird gesagt: Wir können nicht hinein zu Doskozil. Zumindest jetzt gerade nicht.

"Wir müssen kurzfristig verschieben. Melde mich!!", schreibt Doskozils Sprecher um 10.37 Uhr. Da sitzen wir schon im Auto auf dem Weg nach Eisenstadt. Vor Ort ist zunächst unklar, ob das Antrittsinterview des neuen Parteivorsitzenden demnächst stattfinden soll oder gar nicht. Es wird nie stattfinden. Doskozil wird nie Parteivorsitzender gewesen sein. 

Grubesa
Entdeckte einen "schweren Fehler": Wahlkommissions-Leiterin Michaela Grubesa
APA/GEORG HOCHMUTH

Zu diesem Zeitpunkt herrscht in der SPÖ-Zentrale in der Wiener Löwelstraße bereits hektische Betriebsamkeit. Und Michaela Grubesa sitzt im Auto von Bad Aussee nach Wien. Montag, um circa zehn Uhr, soll sie die Information aus der Parteizentrale in Wien erhalten haben, dass sie anreisen müsse. Die Steirerin Grubesa ist die Leiterin der SPÖ-internen Wahlkommission und die Lebensgefährtin von Max Lercher, dem Wahlkampfleiter von Hans-Peter Doskozil. Angeblich soll das Wahlergebnis nicht stimmen, berichten ihr aufgeregte Mitarbeiter der Bundespartei, die die Stimmen erneut ausgezählt haben. Der Grund dafür war eigentlich nur eine fehlende Stimme, ein kleiner unbedeutender Fehler, der am Ergebnis der Vorsitzwahl nichts ändern würde. Dachte man.

VIDEO: Andreas Babler zum Wahlergebnis der SPÖ-Vorsitzwahl
APA

"Wo ist die Scheiß-Stimme?"

Ein Rückblick. Samstag, 3. Juni, 15:32 Uhr: Die Genossinnen und Genossen jubeln Hans Peter Doskozil zu. Der Burgenländer, so steht es auf der Videowall, hat die Stimmen von 53 Prozent der Delegierten erhalten. Er ist somit offiziell Vorsitzender der österreichischen Sozialdemokratie - und Andreas Babler der zerknirschte Verlierer. Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln. Zu diesem Zeitpunkt zumindest. In der Partei verbreiten sich aber langsam Gerüchte: War nicht die Stimmung bei Bablers Rede viel aufgeladener?

Zwanzig Minuten nach der Verkündung des Ergebnisses setzt ORF-Moderator Martin Thür einen Tweet ab, dessen Sprengkraft noch niemandem bewusst ist: "316+279=595 und nicht 596", lautet die spröde Nachricht. Thür war aufgefallen, dass bei der Auszählung eine Stimme verloren ging. Ein kleiner Fauxpas. Oder?

Viele in der SPÖ beschäftigt die fehlende Stimme dennoch. „Wo ist die Scheiß-Stimme“, will einer der Delegierten schon am Parteitag gefragt haben. Auch Grubesa, der Leiterin der Wahlkommission, lässt die Ungereimtheit keine Ruhe. Sie bittet die zuständigen Mitarbeiter in der Wiener Löwelstraße, dem Sitz der roten Parteizentrale, das Ergebnis noch einmal zu kontrollieren. Doch am Sonntag ist niemand vor Ort. Die Suche nach der Stimme wird auf Montag vertagt.

Dann wird nachgezählt. 602 Zettel. Die verloren gegangene Stimme ist eine davon. Sie ändert am Ergebnis – wie ohnehin erwartet – nichts. Bloß: Die Mitarbeiter erkennen einen viel bedeutenderen Fehler. Offenbar wurden die Ergebnisse vertauscht.

Rasche Auszählung ohne Prüfung

Um kurz nach zehn Uhr am Montag wird Doskozils Büro von Grubesa über einen möglichen Fehler informiert. Doskozil selbst wird am Abend von "Gerüchten" sprechen, die ihn zu dieser Zeit erreicht haben. Sein Team erklärt dem STANDARD um 12.02 Uhr, dass das Interview nicht stattfinden könne. Zu dieser Zeit ist noch von gesundheitlichen Problemen eines Mitarbeiters die Rede.

Aber wie konnte dieser Fehler passieren?

Doskozil
Das Ergebnis "pickt", meinte der Doch-Nicht-Chef der SPÖ, Hans Peter Doskozil, am Montag.
APA/HANS KLAUS TECHT

Ein Funktionär aus Wien fasst simpel zusammen: Am Parteitag gab es mehrere Wahlurnen. Als der Wahlgang nach einer halben Stunde – für manche Delegierte: viel zu schnell – vorbei war, trat die Kommission zusammen. Box für Box wurde ausgezählt. Die Teilergebnisse wurden einer Person mitgeteilt, die sie schließlich in eine Excel-Tabelle eingetragen hatte – allerdings jeweils verkehrt, erzählt der SPÖ-Politiker. Die Stimmen Doskozils seien für Babler eingetragen worden, jene Bablers für Doskozil.

Schon am Samstag hatte es Gerüchte gegeben, dass Babler bei fast allen der insgesamt zwölf Wahlurnen mehr Stimmen als Doskozil erhalten hatte. Das muss nichts heißen: Wenn Babler bei neun Urnen knapp vorne liegt, Doskozil bei dreien aber deutlich, ist ein Sieg Doskozils möglich. Es wäre aber ein Grund gewesen, noch einmal nachzuzählen, sagt ein Roter, der Erfahrung in Wahlkommissionen hat: "Die Leute würden ja nicht heimgehen, nur weil es länger dauert."

Doskozil akzeptiert neues Ergebnis

Am Samstag wird das Ergebnis pro Doskozil aber rasch akzeptiert; die SPÖ ist nach den turbulenten Wochen sichtlich um Einigkeit bemüht. Böse Gerüchte oder Zweifel werden kaum gesät. So planen Parteistrategen schon die neue Doskozil-SPÖ, bis am Montag plötzlich die Bombe platzt – und eigentlich nur Verlierer zurücklässt.

Hans Peter Doskozil etwa, bei dem sich Wahlkommissionsleiterin Grubesa in ihrer Pressekonferenz ausdrücklich entschuldigt. Er selbst tritt um 16.45 Uhr vor die Medien. Der Beinahe-Parteichef spricht von einem Tiefpunkt für die österreichische Sozialdemokratie. Von einem Ergebnis, das nun aber "auf dem Tisch pickt". Daran sei nicht zu rütteln, sagt Doskozil. Er gratuliert seinem Kontrahenten zum Wahlsieg. Und der Burgenländer zieht gleich persönliche Konsequenzen. Das Kapitel Bundespolitik, erklärt Doskozil, sei für ihn "ein für allemal geschlossen".

Andreas Babler
Der Nun-Doch-Chef der SPÖ, Andreas Babler (links).
APA/HELMUT FOHRINGER

Wenig später steht Babler im Medienraum des roten Parlamentsklubs in Wien am Rednerpult und traut der Sache nicht. Kurz nach 15 Uhr sei er von Grubesa über die Ungereimtheiten informiert worden, erzählt Babler. Er verlangt, dass auch das neue Ergebnis noch einmal überprüft wird.

"Es ist ganz wichtig, dass hier keine Fragezeichen bleiben", sagt Babler. Nur dann will er am "völligen" Comeback der SPÖ arbeiten. Den Sieg bei der Vorsitzwahl, sollte er von der Wahlkommission bestätigt werden, hätte sich Babler wohl auch anders vorgestellt. Statt Jubelfotos vom Parteitag wird die Ära Babler somit von einer der schlimmsten roten Pannen eingeleitet. (Katharina Mittelstaedt, Jan Michael Marchart, Fabian Schmid, 6.6.2023)