Rekonstruierter Schädel einer ausgestorbenen Menschenart
Homo naledi, hier eine Reproduktion eines Schädels, könnte schon vor mehr als 200.000 Jahren seine Toten in einer Höhle bestattet haben. Die Beweislage ist vielen Fachleuten zufolge aber noch dünn.
APA/AFP/LUCA SOLA

"Ich könnte einen Bodyguard gebrauchen", scherzt der Höhlenforscher und Anthropologe Lee Berger. Seine kontroversen Hypothesen könnten bei Kolleginnen und Kollegen immerhin nicht so gut ankommen, weiß der US-Amerikaner mit Hang zu Drama und medienwirksamem Auftritt. Bereits im Dezember verriet er bei einer Veranstaltung bemerkenswerte Erkenntnisse seines ersten persönlichen Besuchs im schwer zugänglichen, kilometerlangen Rising-Star-Höhlensystem bei Johannesburg (DER STANDARD berichtete). Die Reise in die Dunkelheit, für die er sich einer strikten Diät unterzog und den markanten Stetson-Hut durch Schutzhelm und Stirnlampe ersetzte, führte ihn zu Kohlespuren und anderen Anzeichen für Feuer. Daraus lasse sich schließen, dass die bisher einzige in der Höhle nachgewiesene menschenähnliche Spezies, Homo naledi, Feuer zu nutzen wusste, was die Erkundung der finsteren Höhle erleichtert haben dürfte.

Der Paläoanthropologe Lee Berger 2021 mit der Rekonstruktion eines kindlichen Homo-naledi-Schädels.
Luca Sola / AFP

Am Montag teilte Berger, der an der Universität Witwatersrand in Johannesburg forscht, weitere Entdeckungen mit der Welt: Er und sein Team sind offensichtlich auch auf geometrische Muster gestoßen, die in eine Säule der Höhle eingeritzt wurden und die ebenfalls auf Homo naledi zurückgehen könnten. Bei einem Stein, der in der Hand eines verstorbenen Kindes entdeckt wurde, könnte es sich um ein Werkzeug handeln. Und dann ist da noch die nicht ganz neue Vermutung, dass Homo naledi in der Höhle willentlich Tote bestattet hatte.

Diese These, die der designierte National-Geographic-Entdecker Berger eindrucksvoll illustrieren ließ, könnte demnach nicht nur einen neuen Rekord für die älteste nachweisliche Bestattung markieren und deren Alter damit von etwa 100.000 auf rund 200.000 Jahre erhöhen. Sie würde dieses gewichtige Anzeichen für Kulturpraktiken und Sozialverhalten auch von unserer eigenen Spezies Homo sapiens auf die heute ausgestorbene Naledi-Art übertragen.

Gewagte Annahme

Die Idee gilt als kühn, weil sich Homo naledi in wesentlichen Merkmalen vom gleichzeitig in Afrika lebenden Homo sapiens unterscheidet. Er ist wesentlich kleiner, vor allem beträgt sein Gehirnvolumen nur rund ein Drittel dessen eines modernen Menschen, was eher mit älteren menschenähnlichen Verwandten in Verbindung gebracht wird. Gleichzeitig wirken die Hände und Füße der mindestens 15 teilweise erhaltenen Skelette in der Höhle grazil und den unsrigen durchaus ähnlich.

Forschende beim Homo-naledi-Knochenpuzzle.
Robert Clark / National Geographic / AP

Dass er trotz seines kleinen Gehirns zu ähnlichen Leistungen wie unsere ebenfalls vor 230.000 bis 330.000 Jahren lebenden Vorfahren fähig war oder diese gar übertrumpfte, halten einige Fachleute aktuell für eine gewagte Annahme. Zwar neigt der Mensch dazu, andere Spezies zu unterschätzen, doch die Beweislage in den Rising-Star-Höhlen ist für viele noch zu dünn – auch für einen kausalen Zusammenhang zwischen den aufgefundenen Naledi-Knochen sowie den Brandspuren und in Stein geritzten Linien. Letztere haben teilweise einen reflektierenden oder fluoreszierenden Effekt und zeigen abstrakte Formen, die an Leitern und Hashtags erinnern. Die Felswand, die sie zieren, wurde zuvor wohl abgeschliffen und befindet sich laut Berger teils in unmittelbarer Nähe zu den potenziellen Bestattungen.

Ein Teil der gefundenen eingeritzten Muster an den Höhlenwänden.
Berger et al. 2023

"In diesem Fall haben die Forschenden die Interpretation etwas zu weit getrieben", sagt der Anthropologe Tom Higham von der Uni Wien auf STANDARD-Nachfrage. Es werde nicht berücksichtigt, dass Menschen nach Homo naledi einige der Spuren hinterlassen haben könnten, ob vor 500 oder 50.000 Jahren. Insbesondere würde sich Higham wie viele andere Kolleginnen und Kollegen Datierungen wünschen. Außerdem fehlen der angeblichen Bestattung Kennzeichen, wie sie von anderen Fundstätten bekannt sind. Die Verstorbenen könnten auch durch Wasser in die Höhle gespült oder ohne sorgfältige Bestattung liegen gelassen worden sein. Und dass der Stein in der Nähe der Knochen ein Artefakt ist und damit von Homo-Hand bearbeitet wurde, sei ebenfalls unklar.

Berger wiederum betont, es gebe bisher keine Anzeichen dafür, dass andere menschliche Spezies vor der rezenten Erforschung die Höhle betraten und nutzten. Für die Bestattung der Toten spricht seiner Einschätzung nach die Anordnung der Knochen. Die Verstorbenen dürften sich in einer zusammengekauerten Position in einer niedrigen, ovalen Grube befunden haben. Doch manche der potenziellen Bestattungen überlappten sich teilweise und machten die Zuordnung der Knochen zu einem Skelett schwierig.

Publicity schlägt Fakten?

Immerhin stellte Berger die neuen Erkenntnisse diesmal nicht nur bei seinem Vortrag auf einer Konferenz in Gedenken an Richard Leakey, den im vergangenen Jahr verstorbenen und in Fachkreisen berühmten Paläoanthropologen, vor. Drei Studien zum Thema erschienen zeitgleich auf dem Preprint-Server Biorxiv und sollen im Open-Access-Journal "eLife" publiziert werden, rund 160 Forscherinnen und Forscher wirkten an ihnen mit. Die Fachbegutachtung wartete der Höhlenforscher nicht ab. Die mediale Aufmerksamkeit dürfte auch seinem neuen Sachbuch "Cave of Bones" sowie seiner Netflix-Episode zugutekommen, die in einem Monat in einer Reihe mit drei weiteren Dokumentationen über zeitgenössische Abenteurerinnen und Abenteurer veröffentlicht wird.

Berger hat 2022 erstmals selbst die schmalen Passagen der Rising-Star-Höhlen durchquert, die teils nur eine Bleistiftlänge breit sind.
APA/AFP/LUCA SOLA

Für den Archäologen und Geochemiker Maxime Aubert von der australischen Griffith University "scheint es, dass die Erzählung wichtiger ist als die Fakten", wie er gegenüber der "New York Times" bekanntgab. Das Vorgehen Bergers, nicht wie wissenschaftlich üblich die ("richtige") Studienveröffentlichung abzuwarten, wird von etlichen Kolleginnen und Kollegen kritisiert, aber auch die schwierige Datenlage, wie vier Fachleute in einem "The Conversation"-Beitrag schreiben. Aussagekräftige Datierungen, die aufgrund der zahlreichen Proben Jahre dauern können, sind bisher Mangelware.

Discovering Homo naledi’s meaningful burials
In einem aktuellen Video beschreibt Berger seine Theorien über die prähistorischen Gäste der südafrikanischen Höhle.
ABC News

Hochentwickeltes Affenhirn

Andere haben sich teilweise überzeugen lassen. Der Anthropologe Chris Stringer vom Naturhistorischen Museum in London sagte dem "New Scientist": "Ich gehörte vielleicht zu den Leuten, die skeptisch gegenüber der Vorstellung waren, dass ein Wesen mit einem kleinen Gehirn wie Homo naledi tief in die Höhle hineingehen könnte, um sich seiner Toten zu entledigen." Mittlerweile halte er dies jedoch für wahrscheinlicher. "Falls sich diese gewaltigen Behauptungen als begründet erweisen, haben sie tiefgreifende Auswirkungen auf unsere Rekonstruktionen der menschlichen Evolution." Immerhin müsste man das, was heute als hochentwickeltes symbolisches Verhalten gilt, auch Lebewesen zugestehen, die ähnlich große Gehirne haben wie Menschenaffen. Womöglich müsse man auch überdenken, ob Homo naledi und Homo sapiens einander evolutionär so fern waren, wie man es jetzt – trotz der gemeinsamen Gattung Homo – annimmt.

Und: Einige sehen zumindest Bergers Abenteuergeschichten als etwas, das die Öffentlichkeit stärker für Anthropologie und Archäologie begeistern kann. In jedem Fall ist die Forschung rund um die eigentümliche Spezies Homo naledi heute noch stärker mit der Entdeckerpersönlichkeit Lee Berger verknüpft – auch wenn er nur aufgrund seiner gewagten Hypothesen wohl keinen Leibwächter braucht. (Julia Sica, 6.6.2023)