Schon seit dem Herbst ging in der Ukraine das Gerücht um, die russischen Streitkräfte könnten unter Bedrängnis den wichtigen Kachowka-Staudamm sprengen. Am Dienstag ist der befürchtete Dammbruch Realität geworden. Doch der Kreml dementiert, dahinter zu stecken. DER STANDARD fasst zusammen, was bisher bekannt ist. 

VIDEO: Evakuierungen und Überflutungen wegen Angriff auf Staudamm
AFP

Frage: Was ist nach aktuellem Wissensstand passiert?

Antwort: Am Dienstag gegen fünf Uhr Früh meldete das ukrainische Militär, dass der von russischen Besatzungskräften kontrollierte Damm gesprengt wurde. Die eigentliche Sprengung dürfte bereits einige Stunden zuvor geschehen sein, offenbar gegen zwei Uhr früh. Die russischen Besatzungsbehörden dementierten das jedoch. Rasch war jedenfalls klar: Der Staudamm wurde in der Hälfte seiner Länge irreparabel zerstört. Seither strömen Millionen Liter Wasser durch das klaffende Loch in der Staumauer, die Teile des Kriegsgebiets in der Südukraine überschwemmen und zahlreiche Dörfer und Menschen sowie ihre Wasserversorgung bedrohen. US-Medien berichteten am Dienstagabend, Erkenntnisse der amerikanischen Geheimdienste würden auf eine russische Verantwortung hinweisen.

Der Kachowka-Staudamm ist gebrochen.
IMAGO/Cover-Images

Frage: Was ist der Kachowka-Staudamm?

Antwort: Der 1956 erbaute 30 Meter hohe und 3,2 Kilometer lange Damm und sein Wasserkraftwerk gehören zu den größten Energieanlagen der Ukraine. Der riesige Stausee – er umfasst eine Wassermenge von 18 Kubikkilometern – versorgt auch das besetzte AKW Saporischschja mit Kühlwasser und die besetzte Halbinsel Krim mit Wasser. Die Anlage liegt am unteren Lauf des Dnjepr-Flusses, der im Süden der Ukraine durch die Region Cherson fließt. Im Zuge des russischen Überfalls hatten die von Osten einfallenden russischen Truppen in dem Gebiet den Dnjepr überquert und auch Teile des rechten (in Flussrichtung), sprich westlichen Ufers besetzt. Im Herbst 2022 feierte die Ukraine die Befreiung des westlichen Ufers, doch das östliche Ufer blieb unter russischer Besatzung. Der Dnjepr wurde damit samt Staubecken seit dem Spätherbst quasi zur neuen Front im Krieg.

Frage: Wie ist die Gefahrenlage für Zivilisten?

Antwort: Durch die Sprengung ist der Wasserspiegel im unteren Lauf des Flusses stellenweise um mehrere Meter angestiegen. Bereits in den ersten Stunden sind zahlreiche kleine Inseln überschwemmt worden. Nach Angaben des Gouverneurs der Region Cherson, Olexandr Prokudin, leben 16.000 Menschen in kritischen Überschwemmungsgebieten. Die russische Seite sprach gar von 22.000 Menschen, die von den Überschwemmungen direkt betroffen seien. Laut dem ukrainischen Premier Denys Schmyhal könnten bis zu 80 Dörfer von den Wassermassen zerstört werden. 

Frage: Welche Evakuierungsmaßnahmen wurden schon ergriffen?

Antwort: Die Evakuierungen sind bereits angelaufen. Doch nach Angaben der Ukraine wurden Ukrainer durch russischen Artilleriebeschuss teilweise an ihrer Flucht gehindert. Zwei Polizisten seien verletzt worden. Auch die russischen Besatzer haben Evakuierungen entlang des östlichen Ufers angekündigt. DER STANDARD erfuhr am Dienstag, dass mindestens 100 Kinder aus der Gefahrenzone in Kiew untergebracht werden sollen. Dafür würden eigens humanitäre Zentren eingerichtet. Über weitere Orte wollten die Behörden zwar nichts sagen, aber die Stadt Mykolaijw in der Nähe des zerstörten Staudammes dürfte wohl eine zentrale Rolle spielen.

In der Region Kherson ist es zu Überschwemmungen gekommen.
APA/AFP/SERGIY DOLLAR

Frage: Wie steht es um die Wasserversorgung des Atomkraftwerks Saporischschja?

Antwort: Die steigenden Wasserlevel flussabwärts des Dammes sind das eine. Für das Atomkraftwerk Saporischschja, das bei seiner Kühlung – wie quasi alle Atomkraftwerke weltweit – auf Süßwasserzufuhr baut, ist jedoch der fallende Wasserspiegel im Stausee ein Problem, weil das Kraftwerk damit die Reservoire zur Kühlung von Brennstäben nicht mehr nützen kann. Sollte der Stausee unter das kritische Wasserlevel von 12,7 Meter absinken, könne daraus kein Wasser mehr gepumpt werden, sagt der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi. Aktuell spricht die IAEA jedoch von keinem akuten Risiko: Denn das Atomkraftwerk habe mehrere alternative Kühlungssysteme – darunter ein Kühlbecken, das über dem Staudammlevel liegt. Da die Reaktoren bereits seit Monaten nicht mehr in Betrieb sind, reiche das Wasser aus diesem Teich zur Kühlung – zumindest für einige Monate. Die IAEA ruft die Ukraine und Russland daher dazu auf, dafür zu sorgen, dass ebendieses Becken intakt bleibt.

Frage: Welche Gefahr droht durch weggeschwemmte Minen?

Antwort: Die Russen haben seit Monaten die gesamte Region südlich des Dnjepr defensiv hochgerüstet und heftig vermint, war die Angst vor einer amphibischen Operation der Ukraine doch sehr groß. Auch deshalb dürften durch den steigenden Wasserspiegel nun sehr viele Minen weggeschwemmt werden und sich übers Land verteilen. Auf Telegram und Twitter kursieren bereits einige – bislang noch unverifizierte – Videos, die laut Open-Source-Intelligence-Experten eine amphibische PDM-1m-Anti-Anlandungsmine zeigen könnten, die durch das Anschwemmen an Land explodierte.

Frage: Wie wurde der Damm beschädigt? 

Antwort: Das ist bisher ungeklärt. Die ukrainische Seite hat sogleich Russland dafür verantwortlich gemacht. Nach Angaben des ukrainischen Militärgeheimdiensts haben die russischen Streitkräfte "in Panik" agiert. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach davon, dass Russland das Wasserkraftwerk in der Nacht von innen gesprengt habe. Er hat eine Notfallsitzung des nationalen Sicherheitsrats einberufen. Die "russischen Terroristen" müssten aus "jeder Ecke des Landes vertrieben werden", sagte Selenskyj. Kiew wirft Russland einen "Ökozid"(Anm.: Umweltverbrechen), Terrorismus und Kriegsverbrechen vor.

Ukraine Staudamm Kachowka
Das Wasser hat die Stadt Nowa Kachowka erreicht.
IMAGO/Alexei Konovalov

Der Kreml weist das "auf das Schärfste zurück" und macht die Ukraine, die angeblich von ihrer stockenden Gegenoffensive ablenken und die eigenen Truppen neu aufstellen wolle, für den "Sabotageakt" verantwortlich. Laut einem unbestätigten Bericht der staatlichen Agentur Tass, die sich auf ungenannte russische Besatzer beruft, wurde die Staumauer von einem ukrainischen Mehrfachraketenwerfer beschossen. Außerdem warnen russische Geheimdienste derzeit vor einem ukrainischen Angriff mit einer sogenannten "Dirty Bomb". Zur Erinnerung: Russland hat schon mehrfach in diesem Krieg ohne Beleg davor gewarnt.

Frage: Gibt es bereits internationale Reaktionen?

Antwort: Ja, EU-Ratspräsident Charles Michel etwa machte die Russen klar verantwortlich für den Vorfall und sprach davon, Russland für die Kriegsverbrechen zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Für den Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg zeigt der Angriff einmal mehr "die Brutalität des russischen Krieges in der Ukraine". Auch Deutschland, Kanada und Großbritannien haben Russlands brutalen Krieg kritisiert und für den Vorfall verantwortlich gemacht.

Frage: Welche Folgen hat das für die ukrainische Gegenoffensive?

Antwort: Das ist ad hoc schwer zu sagen. Klar ist, dass in verschiedenen Telegram-Kanälen bereits beide Versionen kursieren. Jene, die die Sprengung den Russen vorwerfen, argumentieren, es würde einen ukrainischen Angriff über den Dnjepr extrem erschweren. In der russischen Erzählung, wonach es die Ukrainer gewesen seien, die ihre eigenen Leute gefährden, heißt es: Durch das abfließende Wasser sei im Spätsommer ein Angriff flussaufwärts über den – weniger Wasser führenden – Dnjepr wahrscheinlicher. Auch dass man der Krim das Wasser wegnehme, spricht laut der Kreml-Propaganda für Kiewer Hintermänner. Russland-Experte Gerhard Mangott hält diese Erklärungsversion jedenfalls für "unwahrscheinlicher". Auch Markus Reisner, Analyst an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt, vermutet aus jetziger Sicht, dass die russische Armee den Damm zerstört hat. "Die Russen sind natürlich nervös, weil die Ukrainer möglicherweise jüngst in die Entscheidungsphase ihrer Offensive übergegangen sind. Das erkennt man daran, dass wir nun Verbände im Einsatz sehen, die sich klar den Brigaden zuordnen lassen, die die Ukraine für die Offensive aufgestellt hat", sagt Reisner.

Frage: Was sagt das Völkerrecht?

Antwort: Laut humanitärem Völkerrecht – also den Regeln des Krieges – dürfen zivile Ziele nicht direkt angegriffen werden, sondern nur militärische. Eigentlich ein klarer Grundsatz, der allerdings in der Praxis keineswegs leicht zu ermessen ist, sagt der österreichische Völkerrechtsexperte Ralph Janik in einer Twitter-Reaktion. "Weil es dabei auch auf die Frage ankommt, wen und was man als legitimes militärisches Ziel erachtet und wie wichtig ein Ziel ist." Denn umso wichtiger ein Ziel sei, desto größer die indirekten Folgen, die bei einem Angriff auch in Kauf genommen werden dürfen. So dürften Zivilsten in einem Krieg zwar keinesfalls angegriffen werden, doch sie könnten in der Nähe eines militärisch legitimen Ziels zu Schaden kommen. "Bezogen auf einen Damm gibt es aber eine eigene Regel", sagt Janik mit Verweis auf den Artikel 56 des ersten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen von 1977. Dieser besagt, dass Einrichtungen, die gefährliche Kräfte freisetzen, auch dann nicht angegriffen werden dürfen, wenn sie militärische Ziele darstellen – "sofern ein solcher Angriff gefährliche Kräfte freisetzen und dadurch schwere Verluste unter der Zivilbevölkerung verursachen kann".

Frage: Gibt es historische Vergleiche?

Antwort: Ja, und man muss dafür nicht einmal sehr weit schauen. Als im Jahr 1941 die Nazis in der sowjetischen Ukraine vorrückten, ließ der Kreml-Diktator Josef Stalin nämlich den Damm Dnipro HES am Saporischschja-Stausee in die Luft jagen. Unter den 20.000 bis 100.000 Todesopfern der Überschwemmung waren auch zahlreiche, durch Stalin geopferte, eigene Truppen. Männer des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten der Sowjetunion hatten den Damm damals gesprengt. (Flora Mory, Fabian Sommavilla, Daniela Prugger, Florian Niederndorfer, 6.6.2023)

Anmerkung: In einer früheren Version wurde fälschlicherweise nahegelegt, dass Stalin 1941 denselben Staudamm sprengen ließ, tatsächlich war es ein nahegelegener. Dieser Fehler wurde korrigiert.