Textil Müller Kritzendorf
Von überall her kommen die Menschen nach Kritzendorf, um in der Zentrale von Textil Müller ein Schnäppchen zu ergattern.
Heribert Corn

Ein gutes Sonderangebot erkennen viele Schnäppchenjäger daran, dass ein Schild mit einem Kilopreis darüber hängt. Das ist mit ein Grund, warum viele Menschen von überall her ins kleine Kritzendorf an der Donau pilgern. Dort, bei Textil Müller, gibt es Gmundner Keramik und Bücher zum Kilopreis – und Textilien in rauen Mengen. Für viele Hobby-Bastlerinnen, Schneider, Bühnenbildnerinnen, Eventplaner und Designerinnen ist der Ort ein Mekka. Vor allem Stoffe, das Hauptgeschäft des Unternehmens, werden zu Schleuderpreisen verkauft, die über die Grenzen Österreichs hinaus als unerreicht gelten.

300 Tonnen Stoffe aus Italien

Doch wie ist das möglich? Adnan Beslagic, genannt "Adi", ist Geschäftsführer und Eigentümer von Textil Müller und hat den Einkauf von Restposten zu seinem Geschäftsmodell gemacht. Stolz erzählt er von 30 Sattelschleppern, beladen mit 300 Tonnen Stoffen, die er einst von Italien nach Österreich hat bringen lassen. Damals wurde das Lager einer Marke für Teenagermode aufgelassen, die in Konkurs gegangen war. "Die Firmen rufen uns an, denn es gibt in Europa sonst niemanden, der Ware in diesen großen Dimensionen übernehmen kann", erklärt Beslagic.

Meist wollen oder dürfen die Unternehmen das Material nicht entsorgen. Es gehe ihnen darum, "sie schnell loszuwerden – der Preis spielt da keine große Rolle", sagt Beslagic. Und so kommt es, dass er zwölf Paletten Gmundner Keramik vom griechischen Vertriebspartner der Geschirrmanufaktur bekommt, weil dieser seinen Job quittiert. Oder dass er Geschäfte mit bekannten Designermarken wie Hugo Boss oder Salvatore Ferragamo macht – von Letzterer habe er erst kürzlich einen "riesen Sattelzug voll Leder übernommen", erzählt er. Es seien Überhänge von Taschen- und Schuhproduktionen der aktuellen Saison. Normalerweise koste dieses Leder pro Quadratmeter 70 bis 100 Euro, in Kritzendorf bezahlt man dafür vier oder fünf Euro.

Textil Müller Kritzendorf Adnan Beslagic
Das Lager nennt Geschäftsführer "Adi" Beslagic ein "organisiertes Chaos". Wo etwas ist, hat er höchstpersönlich im Kopf.
Heribert Corn

Beslagic liegt die Leistbarkeit am Herzen, weil er der Meinung ist, es müsse sich für die Menschen rentieren, wenn sie sich noch selbst an die Nähmaschine setzen: "Wenn ein T-Shirt aus Jerseystoff im Handel neun Euro kostet, darf ein Meter nicht teurer als vier Euro sein."

Beslagic selbst kauft die Ware ein. Und im Zentrallager in Kritzendorf macht es den Eindruck, als würde er kaum je ein Angebot ablehnen. Die Regale platzen aus allen Nähten. Wer hier durchgeht, fühlt sich wie in einem Canyon. Es ist dunkel, meterhoch türmen sich rechts und links die Stoffe bis unter die Decke, die Dimensionen sind überwältigend. Wer sich hier nicht auskennt, findet aus diesem Labyrinth alleine nicht wieder hinaus. Rund 30.000 Quadratmeter Lagerfläche hat das Unternehmen insgesamt.

Und hier geht es noch analog zu. Einen Onlineshop oder ein digitales Lagersystem gibt es nicht. "Alles ist hier gespeichert", sagt Beslagic bei einer Führung durch die Hallen und tippt mit einem Finger auf seinen Kopf. Auch Franz Müller, einstiger Eigentümer von Textil Müller, habe, wenn ein Kunde mit einem Stück Stoff vor ihm gestanden sei, genau gewusst, in welchem Gang das Produkt zu finden sei. "Und dazu hat er sich noch genau erinnert, wann wo und um wie viel Geld er es gekauft hat", erzählt Beslagic.

Textil Müller Kritzendorf
Die schiere Auswahl ist überwältigend und wirkt Designerinnen mitunter als Inspiration.
Heribert Corn

Seit sieben Jahren führt er nun die Geschäfte, arbeitet 100 Stunden pro Woche, wie er erzählt. Im Dezember des Vorjahres ist Franz Müller, der das Unternehmen in den 1960er-Jahren gegründet hatte, verstorben. Beslagic erzählt liebevoll von ihm. Er war sein langjähriger Mitarbeiter und ist jetzt, da Müller keine Familie hatte, alleiniger Erbe. Er will das Unternehmen im Sinne seines Mentors weiterführen. Das heißt vor allem, dass nichts weggeworfen wird – denn das sei für Franz Müller immer ein No-Go gewesen.

Um das zu vermeiden, hat der frühere Chef in den 1980er-Jahren zwei große Lagerhallen im Waldviertel angemietet. "Die sind bummvoll, wir fahren nur selten hin", sagt Beslagic. Zuletzt etwa, als eine Filmproduktion auf der Suche nach Stoffen aus früheren Jahrzehnten war. "Ich bin extra mit ihnen dorthin gefahren, und sie waren begeistert. Aufheben zahlt sich aus!", schildert Beslagic in seinem Büro. Auf dem Tisch vor ihm türmen sich Unterlagen, im Hintergrund läuft leise Jazzmusik.

Viele Kaufleute hätten vor der Pandemie den Fehler gemacht, auf ein Lager zu verzichten, um Fixkosten zu sparen. "Wir haben die Ware lagernd, das ist unser Potenzial", sagt Beslagic und erzählt, wie es zu Corona-Zeiten in ganz Europa zu wenig Masken und Material dafür gab. "Wir haben damals Millionen Meter Gummi verkauft und waren die Einzigen, die ihn lagernd hatten", sagt Beslagic, der sichtlich stolz auf seine Strategie ist. Die Menschen seien tagelang vor seinen Geschäften Schlange gestanden.

Textil Müller Kritzendorf
"Die Preise sind unschlagbar", finden die Kundinnen.
Heribert Corn

Doch die großen Lagerbestände haben auch ihren Preis. "Es sei etwas schmuddelig und chaotisch", sagen viele, die "den Müller" kennen. Beslagic widerspricht dem nicht, nennt sein Geschäft selbst ein organisiertes Chaos.

75 Mitarbeiter hat das Unternehmen, 1000 Kundinnen kommen täglich in eine der sechs landesweiten Filialen und haben dort die Auswahl aus 10.000 Artikeln. Beslagic setzt auf Impulskäufe und Kaufrausch: Die Menschen würden kommen, weil sie einen Vorhang brauchen, und noch mit 20 anderen Dingen wieder nach Hause gehen, sagt er. Was ins Sortiment kommt, entscheidet er. "Die Grenze liegt dort, wo es für unsere Kundinnen nicht mehr interessant ist." Es sind vor allem Frauen, die hier einkaufen. Neben Stoffen gibt es Nähzubehör, Dekoartikel, Bücher und so gut wie alles, was man daheim gebrauchen kann: Sonnenschirme, Polster, Kleidung, Geschirr.

Chaos beim "Fetzn-Müller"

Darunter ist auch billiges Klumpert, sagt eine Kundin; gleichzeitig finde man hier alles, was man braucht, erzählt eine andere. Sie ist Bühnenbildnerin und kommt nach Kritzendorf, "weil der Preis unschlagbar ist und die Auswahl mich inspiriert", wie sie sagt. Vielen ist das Unternehmen als "Fetzn-Müller" bekannt, ein Titel, über den Franz Müller nie sehr glücklich war, wie Beslagic erzählt.

Textil Müller Kritzendorf
Ein großer Teil der Waren stammt aus Restposten - darunter sind auch namhafte Modemarken.
Heribert Corn

Tatsächlich herrscht im Lager vielerorts ein Durcheinander. Die Verkaufsräume sind hingegen besser organisiert. Die meisten Kundinnen finden sich zurecht, auch wenn sie das Gefühl haben, hier erst einmal wühlen zu müssen, um Schätze zu finden. Dass welche zu finden sind, ist aber unumstritten.

Zwölf Zugminuten von Wien, in Kritzendorf, liegt mit Textil Müller ein Mekka für Selbermacherinnen. Geschäftsführer Adnan Beslagic schmeißt den Laden, ist stolz auf sein Lager, die guten Deals mit Geschäftspartnern und die günstigen Preise, die er seinen Kunden bieten kann. (Bernadette Redl, 6.6.2023)