In seinem Gastkommentar bringt Martin Bernard vom Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien Klarheit ins Chaos um die Vorsitzwahl und den aktuellen Vorsitz.

Wer ist der Gewinner? Am Samstag in Linz schien das noch klar, und Andreas Babler applaudierte Hans Peter Doskozil.
Foto: APA / Helmut Fohringer

Noch am Samstag hieß es, Hans Peter Doskozil sei mit 53 Prozent als neuer Bundesparteivorsitzender der SPÖ gewählt worden. So verkündete es die Leiterin der Wahlkommission. Nun soll alles anders sein. Nachdem der Journalist Martin Thür auf rechnerische Unstimmigkeiten beim verkündeten Ergebnis aufmerksam gemacht hatte, war noch einmal nachgezählt worden. Das überraschende Ergebnis: Andreas Babler und nicht Hans Peter Doskozil hatte die Mehrheit der Stimmen der Delegierten erhalten. Bei der Übertragung der Stimmen in eine Excel-Tabelle war es zur Verwechslung gekommen. In der SPÖ schien sich am Montag schnell die Auffassung durchzusetzen, dass Andreas Babler nun Bundesparteivorsitzender sei. Damit wäre das erst zwei Tage zuvor am Parteitag offiziell verkündete Ergebnis gänzlich irrelevant. Wer ist jetzt der oder die rechtmäßige Bundesparteivorsitzende der SPÖ?

Nicht geregelt

Eine Antwort auf diese Frage zu finden ist diffiziler, als man vermuten mag. Die erste Anlaufstelle, das Parteiengesetz, schweigt sich dazu aus. Das ist nicht weiter verwunderlich: Politische Parteien werden, wie Stephan Lenzhofer ausführt, in Österreich (anders als in vielen anderen europäischen Ländern) durch keine Rechtsvorschrift ausdrücklich zu einer binnendemokratischen Organisation verpflichtet. Regelungen zum Modus der Bestellung von Parteiorganen, geschweige denn zu allfällig auftretenden Fehlern bei derselben, sucht man daher vergeblich.

Klarer vorgezeichnet ist der Weg zum "Lebenstraum" Parteivorsitzender in der Satzung der SPÖ, dem Organisationsstatut. Gemäß Paragraf 58 des Organisationsstatuts ist die Wahl des Bundesparteivorstands mit Stimmzetteln vorzunehmen und erfolgt geheim. "Gewählt sind diejenigen, deren Stimmenzahl die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen erreicht hat", legt Paragraf 58 Absatz 3 des Organisationsstatuts fest. Die Ergebnisse der Wahl müssen anschließend gemäß Paragraf 65 des Organisationsstatuts in geeigneter Weise veröffentlicht werden. Doch was passiert, wenn das veröffentlichte Ergebnis mit dem tatsächlichen nicht übereinstimmt? Eine Regelung dazu findet sich weder im Organisationsstatut noch in der Geschäftsordnung des Parteitags.

Der Oberste Gerichtshof hat derartige Regelungslücken im Parteienrecht durch die Anwendung der Bestimmungen des Vereinsrechts gefüllt. Auch dort müssen Obleute gewählt werden, auch dort kann es bei Abstimmungen zu Fehlern kommen. Wahlen von Vereinsorganen sind nach der Rechtsprechung Beschlüsse. Als solche können sie bei Fehlern gemäß Paragraf 7 Vereinsgesetz entweder nichtig oder anfechtbar sein.

VIDEO: Babler meldet sich nach Bestätigung seiner Wahl bei Pressekonferenz zu Wort.
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Drei Möglichkeiten

Der Kern des Problems liegt im Auseinanderklaffen zwischen dem Wahlergebnis selbst und dem verkündeten Wahlergebnis. Im Gesellschaftsrecht ist diese Problematik wohl bekannt: Dort wird dafür zwischen der Beschlussfassung und der Beschlussfeststellung differenziert. Während man unter Ersterer die Abstimmung selbst versteht, etwa durch die Aktionäre auf der Hauptversammlung einer AG, ist die Beschlussfeststellung der Akt, der das Ergebnis der Abstimmung formell festhält und damit auch nach außen sichtbar macht. Auf den SPÖ-Parteitag übertragen wäre die Beschlussfassung die geheime Wahl durch die Delegierten und die Beschlussfeststellung die Verkündung des Wahlergebnisses durch die Leiterin der Wahlkommission.

"Gute Gründe sprechen dafür, dass die Wahl von Doskozil bis auf Weiteres gültig ist."

Folglich bestehen drei Möglichkeiten: Erstens, am Samstag wurde bereits Andreas Babler zum Parteivorsitzenden der SPÖ gewählt, die Verkündung des Ergebnisses ist irrelevant, da es nur auf die Stimmenmehrheit für einen der Kandidaten ankommt. Zweitens, die Wahl, so wie sie verkündet wurde, war nichtig, es gibt daher gar keinen neuen Parteivorsitzenden, und Pamela Rendi-Wagner ist weiterhin die Vorsitzende. Oder drittens, die Wahl war fehlerhaft und ist anfechtbar, bis zu einer erfolgreichen Anfechtung gilt Hans Peter Doskozil als gewählt.

Gute Gründe sprechen dafür, dass letztere Variante zutrifft und die Wahl von Doskozil bis auf Weiteres gültig ist. Bei einer geheimen Wahl ist ein gültiges Ergebnis ohne förmliche Beschlussfeststellung nur schwer denkbar, weiß doch vor der Feststellung und Verkündung des Ergebnisses noch niemand, wie abgestimmt wurde und damit welchen Inhalt der gefasste Beschluss hat. Man kann keinen Beschluss fassen und jemanden in eine Funktion wählen, ohne dass irgendjemandem – nicht einmal den Auszählenden – bekannt ist, wer gewählt wurde. Eine Beschlussfeststellung durch Verkündung des Wahlergebnisses ist daher erforderlich.

"Geht man davon aus, dass es sich bei den Auszählungsfehlern um derartig gravierende Mängel handelt, dass die Wahl des neuen Vorsitzenden gänzlich nichtig ist, ist bereits jetzt Pamela Rendi-Wagner noch amtierende Parteivorsitzende."

In der juristischen Fachliteratur (Walch in Schopper/Weilinger, Vereinsgesetz Paragraf 5 Rz 282) wird in Übereinstimmung zu den Regelungen für AG und GmbH davon ausgegangen, dass die Beschlussfeststellung auch bei Vereinen vorläufig verbindlich ist. Erst eine erfolgreiche Anfechtung würde den festgestellten Beschluss aus der Welt schaffen. Der tragende Gedanke dabei ist die Rechtssicherheit: Auf das festgestellte Beschlussergebnis soll man sich auch verlassen können. Wenig plausibel erscheint, dass der Beschluss einfach durch die Vorsitzende der Wahlkommission berichtigt werden kann. Daran ändert auch die Aussage der neuen Leiterin der Wahlkommission, Klaudia Frieben, Babler sei der gewählte Vorsitzende der SPÖ, nichts. Maßgeblich bleibt das festgestellte Ergebnis der Wahl am Samstag.

Zuständig für eine Anfechtung ist das Schiedsgericht der SPÖ. Nach einer erfolgreichen Anfechtung wäre der Wahlbeschluss vernichtet und die bisherige Parteivorsitzende weiter im Amt. Geht man davon aus, dass es sich bei den Auszählungsfehlern um derartig gravierende Mängel handelt, dass die Wahl des neuen Vorsitzenden gänzlich nichtig ist, ist bereits jetzt Pamela Rendi-Wagner noch amtierende Parteivorsitzende.

Weiterer Parteitag erforderlich

Für die SPÖ ist ein neuerlicher Parteitag unausweichlich, wenn man endlich Klarheit schaffen möchte, wer denn nun Parteivorsitzender oder Parteivorsitzende ist. Die gute Nachricht für die SPÖ: Eine Heilung des fehlerhaften Beschlusses durch eine neuerliche Wahl auf einem Parteitag ist möglich. Vielleicht ist dieser Fall dem Gesetzgeber oder zumindest der SPÖ auch Anlass, Klarheit für derartige Fälle im Parteiengesetz oder im Organisationsstatut zu schaffen. (Martin Bernard, 6.6.2023)