In seinem Gastkommentar schreibt Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz über die Folgen der industriepolitischen Maßnahmen der USA, aber auch Europas.

Mit der Verabschiedung des Inflation Reduction Act (IRA) haben die USA bei der Bekämpfung des Klimawandels zu den übrigen hochentwickelten Volkswirtschaften der Welt aufgeschlossen. Der IRA bewilligt deutlich höhere Ausgaben zur Förderung von erneuerbaren Energien, Forschung und Entwicklung und anderen Prioritäten, und es wird, falls Schätzungen über seine Auswirkungen nur annähernd korrekt sind, der Einfluss auf das Klima beträchtlich sein.

Zwar ist die Ausgestaltung des Gesetzes nicht ideal. Jede Ökonomin und jeder Ökonom hätten einen kosteneffizienteren Gesetzesentwurf abfassen können. Doch die politische Situation in den USA ist verfahren, und man muss den Erfolg anhand des Möglichen messen statt an hehren Idealen. Der IRA ist, trotz seiner Mängel, deutlich besser als gar nichts. Der Klimawandel wartet nun einmal nicht, bis die USA ihr Haus politisch in Ordnung gebracht haben.

Der Beschluss des Inflation Reduction Act war für seine Regierung ein großer Erfolg: US-Präsident Joe Biden.
Foto: AFP/Jim Watson

Zusammen mit dem CHIPS and Science Act des letzten Jahres – der darauf zielt, Investitionen, die heimische Industrie und die Innovation im Halbleiterbereich und bei einer Reihe anderer fortschrittlicher Technologien zu fördern – hat der IRA die USA auf den richtigen Kurs gebracht. Er geht über den Finanzsektor hinaus und konzentriert sich auf die Realwirtschaft, wo er dazu betragen dürfte, abgeschlagene Branchen neu zu beleben.

Diejenigen, die sich allein auf die Mängel IRA konzentrieren, erweisen uns allen einen Bärendienst. Indem sie sich weigern, das Problem im Kontext zu betrachten, leisten sie jenen Partikularinteressen Vorschub, die es vorziehen würden, dass wir in Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen verharren. Die größten Bedenkenträger sind dabei die Verteidiger von Neoliberalismus und regellosen Märkten. Dieser Ideologie verdanken wir die letzten 40 schwachen Wachstums, wachsender Ungleichheit und der Untätigkeit beim Klimaschutz. Ihre Fürsprecher haben stets vehement gegen industriepolitische Maßnahmen wie den IRA argumentiert, und zwar selbst, nachdem neue Entwicklungen in der Wirtschaftstheorie erklärten, warum derartige Maßnahmen zur Förderung von Innovation und technologischem Wandel notwendig sind.

"Man sollte die Regierung von US-Präsident Joe Biden dafür loben, dass sie sich von zwei zentralen neoliberalen Annahmen verabschiedet hat."

Schließlich beruhte das von den ostasiatischen Volkswirtschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreichte "Wirtschaftswunder" teilweise auf deren Industriepolitik. Und auch die USA selbst haben lange von einer derartigen Politik profitiert – auch wenn diese in der Regel im Verteidigungsministerium versteckt war, das half, das Internet und sogar den ersten Browser zu entwickeln. In ähnlicher Weise beruht Amerikas weltführender Pharmasektor auf staatlich finanzierter Grundlagenforschung.

Man sollte die Regierung von US-Präsident Joe Biden dafür loben, dass sie sich von zwei zentralen neoliberalen Annahmen verabschiedet hat. Wie Bidens Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan es kürzlich formuliert hat, sind dies die Annahmen, "dass Märkte Kapital immer produktiv und effizient verteilen" und dass "die Art des Wachstums unwichtig ist". Sobald man erkennt, wie fehlerhaft diese Prämissen sind, ist die Verfolgung einer Industriepolitik ein Selbstgänger.

"Die übrige Welt muss dasselbe tun."

Doch sind viele der größten heutigen Probleme globaler Art und erfordern daher internationale Zusammenarbeit. Selbst wenn USA und EU bis 2050 unterm Strich emissionsneutral werden, wird das allein das Problem des Klimawandels nicht lösen. Die übrige Welt muss dasselbe tun.

Leider war die Politik der hochentwickelten Volkswirtschaften einer globalen Zusammenarbeit zuletzt nicht gerade förderlich. Man denke an den Impfstoff-Nationalismus, den wir während der Pandemie erlebten, als die reichen westlichen Länder Impfstoffe und das zu ihrer Herstellung erforderliche geistige Eigentum horteten und damit den Profit der Pharmaunternehmen über die Bedürfnisse von Milliarden von Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern stellten. Dann kam Russlands Invasion in der Ukraine, die zu einem steilen Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise in Schwarzafrika und anderswo führte. Vom Westen kam praktisch keinerlei Hilfe.

Kaum echte Hilfe

Schlimmer noch: Die USA erhöhten die Zinsen, was den Dollar gegenüber anderen Währungen stärkte und die Schuldenkrisen in den Entwicklungsländern verschärfte. Auch hier bot der Westen nur schöne Worte, aber kaum echte Hilfe an. Und obwohl sich die G20 bereits auf ein Regelwerk zur zeitweiligen Aussetzung des Schuldendienstes seitens der ärmsten Länder verständigt hatte: Was wirklich nötig war, war die Umstrukturierung der Schulden.

Vor diesem Hintergrund könnten IRA und CHIPS Act durchaus die Vorstellung verstärken, dass die Entwicklungsländer Opfer einer Doppelmoral sind und das Recht nur für die Armen und Schwachen gilt, während die Reichen und Mächtigen tun und lassen können, was sie wollen. Die Entwicklungsländer regen sich seit Jahrzehnten über globale Regeln auf, die sie hindern, ihre in den Kinderschuhen steckenden Branchen zu subventionieren, weil das angeblich die Chancengleichheit beeinträchtigen würde. Doch wussten diese Länder schon immer, dass keine Chancengleichheit bestand. Der Westen hatte alles Fachwissen und geistige Eigentum und zögerte nicht, davon möglichst viel zu horten.

Hohle Worte

Nun aber gehen die USA sehr viel offener damit um, dass sie den Wettbewerb manipulieren, und Europa steht kurz davor, dasselbe zu tun. Die Biden-Regierung behauptet, sie stünde weiterhin zur Welthandelsorganisation (WTO) "und den gemeinsamen Werten, auf denen sie basiert: fairem Wettbewerb, Offenheit, Transparenz und Rechtstreue". Doch diese Worte klingen hohl. Die USA blockieren noch immer die Ernennung neuer Schlichter in das Schiedsgremium der WTO und stellen auf diese Weise sicher, dass gegen sie keine Klage wegen Verstößen gegen die internationalen Handelsregeln eingereicht werden kann.

Natürlich hat die WTO eine Menge Probleme; ich selbst weise seit Jahren auf viele davon hin. Doch es waren die USA, die die aktuellen Regeln in der Hochphase des Neoliberalismus am stärksten geformt haben. Was bedeutet es, wenn das Land, das die Regeln gemacht hat, sich von ihnen abwendet, sobald das zweckdienlich ist? Was für eine Art von "Rechtstreue" ist das? 

Neue Regeln

Mit ihren industriepolitischen Maßnahmen gestehen die USA und Europa offen ein, dass die Regeln neu geschrieben werden müssen. Aber das wird Zeit erfordern. Um sicherzustellen, dass die Länder niedrigen und mittleren Einkommens in der Zwischenzeit nicht zunehmend (und zu Recht) verbittert werden, sollten die westlichen Regierungen einen Technologiefonds ins Leben rufen, um anderen zu helfen, in ihren Ländern entsprechende Ausgaben zu tätigen. Das würde die Chancengleichheit zumindest etwas erhöhen und jene Art globaler Solidarität fördern, die wir brauchen, um die Klimakrise und andere globale Herausforderungen zu bekämpfen. (Joseph E. Stiglitz, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 8.6.2023)