Luft ist auch nur eine Flüssigkeit. Doch bevor Physiklehrer jetzt in Schnappatmung verfallen, ergreift Simon Tschannett das Wort. Tschannett ist Meteorologe. Eines seiner Spezialgebiete ist die Art und Weise, wie Luftmassen sich bewegen. Welchen Gesetzen und Regeln sie dabei folgen. Und warum Luft wann wo wie fließt. Das tut sie nämlich genau so wie eine Flüssigkeit: Bergab, von kühl nach warm, bis sie an ein Hindernis stößt. Dann rundherum – den Weg des geringsten Widerstands. Schnell, wenn der Kanal, die Trasse, schmal und der Druck hoch ist. Langsam und träge, wenn sich das Bett weitet – bis zum Stillstand. "Ja", bestätigt Tschannett, "das ist so wie bei jeder Flüssigkeit."

Diese Definition, so der aus Vorarlberg stammende, seit 2005 Kommunen und Städte in Österreich und Deutschland in Klimafragen beratende Klimatologe, sei nicht nur für Laien verständlich heruntergebrochenes Fachchinesisch, sondern Teil seines täglichen Arbeitens. Etwa dann, wenn er mit Weatherpark-Mitgründer Matthias Ratheiser über seiner für die Stadt Wien erstellten "Kaltluftstromkarte" sitzt – und die Pfeile und Linien erklärt, die da vom Wienerwald kommend bis tief in die Gründerzeitbezirke reichen. Oder in Parks und über landwirtschaftlichen Flächen ihren Ausgangspunkt nehmen – und in die verbaute Umgebung leiten. Oder Wasseradern entlang führen – von, aber auch gegen die Flussrichtungen von Donau, Donaukanal oder Wienfluss.

Kaltluftseen

Tschannetts und Ratheisers Erklärung der Karte klingt zunächst banal. Nach Binsenweisheit. Das betonen die Klimatologen selbst: "Jeder kennt das: Wenn es am Abend kühler wird und man auf einer sanft abfallenden Wiese sitzt, kommt ein kleiner, sanfter Luftzug auf." Das zu erkennen, bedarf es keines Meteorologiestudiums. Auch dafür, diese Strömungen – rudimentär – auf dem Plan einer auf einer Seite von Hügeln umgebenen Stadt wie Wien einzuzeichnen, nicht.

Schwieriger wird es, will man diese Luftströme auch regional, klein- und kleinsträumig kennen. Oder wissen, wie groß und hoch jene "Kaltluftseen" sind, die sich abends (ab wann eigentlich?) über Parks bilden und bis in welche Höhe sie sich als "Blasen" aufbauen. Wann sie dann "platzen" – und wohin und wieweit diese kühlere Luft "rinnt".

Kühle Vision

Wirklich spannend wird es aber, wenn jemand "cui bono?" fragt: Wozu? Ratheiser und Tschannett haben darauf Antworten, die auch in der Stadt- und Raumplanung auf allerhöchstes Interesse stoßen. Die in der Architekturwelt gerade ankommen. Die bei Immobilienentwicklern bei der Bewertung und Bepreisung von Projekten eine Rolle zu spielen beginnen. Die in der Politik aber noch kaum Niederschlag finden: Der Überhitzung der Stadt antwortet Wien auf der sichtbaren Ebene gern mit momentan Linderung schaffenden Nebelduschen in Parks. Fototermin beim Einschalten inklusive.

Nachhaltig strukturelle Maßnahmen – etwa die massive Reduktion von Oberflächenparkplätzen samt begleitender Bodenentsiegelung und massiven Begrünungen – traut sich aber (noch) niemand ernsthaft zu setzen. Und von Plänen oder Maßnahmen, bei Widmungs- und Planungsverfahren kommunal, regional aber auch lokal so einzugreifen, dass die kühlere Abendluft beim Hauseck X vielleicht ein paar Meter weiter, eine halbe Stunde früher und ein paar Zehntelgrad kühlender in die nächste Gasse fährt, haben viele sogar an der Materie Interessierte in Rathaus und Bezirksämtern noch nicht einmal gehört.

Frau in Spanien leidet unter der Hitze
Phasen, in denen die Höchsttemperatur an mindestens drei aufeinanderfolgenden Tagen über 30 Grad liegt und während der Nacht nicht weniger als 20 Grad gemessen werden, sind heute nicht nur in Spanien sommerliche Realität.
EPA/SALAS

Neu auf der Landkarte

Wie auch? Auch wenn es den Plan gibt, fehlen die Umsetzungswerkzeuge. Auch international, seufzt Max Witkowski, Wiens Stadtklimatologe, gebe es bisher kaum Erfahrungswerte, geschweige denn Regularien, wie kühlende abendliche Luftströme in Planung und Verordnungen implementiert werden könnten. Denn das Thema der im Klimawandel überhitzenden Städte sei für unseren Siedlungsraum "ziemlich neu", ergänzt Thomas Madreiter: Mit der Erhitzung der Stadt und damit, dass es just in den am dichtesten – und meist weniger wohlhabenden – Vierteln am heißesten sei, mussten sich die Vorgänger von Wiens Planungsdirektor in diesem Ausmaß nie auseinandersetzen.

Innenhofbegrünungen im Rahmen der "sanften" Stadterneuerung? Ja, klar – aber als "großes" Thema der Erforschung urbaner Luftgezeiten wurde die Stadtluftkühlung von Madreiters Fachabteilung für Stadtentwicklung erst 2020 offiziell angegangen: mit dem Auftrag an die Weatherpark-Macher, neben anderen Hitze- und Temperaturverteilungsplänen auch Wiens nächtliche Kaltluft-Tiden zu kartografieren. Im europäischen Vergleich war das früh. "Ein wichtiger und richtiger erster Schritt", sagt Madreiter. Aber das reiche nicht: Nun gelte es, "ins Tun" zu kommen. Auch und gerade, weil das "Neuland ist".

Ungekannte Hitzewellen

Natürlich könnte man über "Neuland" diskutieren. Schließlich suchen und geben Architektur und Planung seit jeher überall Antworten auf klimatische Parameter: die engen Gassen arabischer Städte, die weiß getünchten Wände griechischer Dörfer, die Ausrichtung und Neigung von Dächern egal wo … Auch das Fehlen der für italienische Gründerzeithäuser typischen hölzernen Fensterläden in gleich alten, ähnlichen Gebäuden in Österreich ist nicht zuletzt klimatischen (Nicht-)Notwendigkeiten geschuldet.

Dennoch passt der Terminus "Neuland": Hitzewellen, wie die der vergangenen Sommer sind in zentraleuropäischen Städten heute Normalität. Noch in den 1960er-Jahren gab es sie so gut wie nicht. Als "Hitzewelle", das nur nebenbei, gilt eine Phase, in der die Tageshöchsttemperatur an mindestens drei aufeinanderfolgenden Tagen über 30 Grad Celsius liegt und während der Nacht nicht weniger als 20 Grad Celsius gemessen werden. Zwischen 1870 und 1900, durchforsteten die Weatherpark-Meteorologen die Stadtchronik, gab es in Wien "jahrzehntelang kaum Hitzewellen" (Tschannett). Zwischen 1900 und 1920 dann "genau eine". Noch in den 1970er-Jahren "waren Hitzewellen kein Thema. Nun haben wir sie jedes Jahr."

Was das mit ihren Nacht-Kaltluftströmungskarten zu tun hat? Viel. Denn zu den gesundheitsrelevanten Kernproblemen von Hitzewellen zählt auch das Nichtabkühlen der Stadt bei Nacht. In den letzten fünf Jahren, so Ratheiser, sei die hitzebedingte Übersterblichkeit gerade in Wien "massiv angestiegen". Hitze koste in Österreich mittlerweile mehr Menschenleben als der Straßenverkehr. "Setzen wir keine Gegenmaßnahmen", referiert Simon Tschannett, "haben wir 2050 in Österreich 6.000 bis 9.000 Hitzetote pro Jahr."

Werkzeuge für die Stadtplanung

Kaltluftstromkarten – die es längst für so gut wie jede größere Stadt gibt –, ergänzt Matthias Ratheiser daher, sind deshalb "Werkzeuge, die in der Planung, der Raumordnung und bei Widmungen in Zukunft eine zentrale Rolle spielen werden." Weil Gebäudeformen, -ausrichtungen und -höhen sich "massiv auf die Intensität und Reichweite dieser nächtlichen Abkühlung auswirken": Ein – hypothetisch – quer zum Hang errichteter Riegelbau wirke wie eine Staumauer. Dahinter könnten ganze Viertel von der kühleren Nachtluft abgeschnitten bleiben. "Ideal", so die Klimatologen, "wären im Neubau an manchen Orten 'aufgeständerte Bauten' – quasi Pfahlbauten: Da rollt die kühle Luft unten durch."

Freilich: Das Bild einer allabendlichen Kaltluftlawine vom Wilhelminenberg, deren Ausläufer am Stephansplatz zu spüren sind, ist weit überzeichnet. Zum einen, weil es undenkbar ist, in die vorhandene Stadtstruktur Kaltluftschneisen zu schlagen. Aber auch, weil manche Gebiete der Stadt davon nicht erreicht werden würden, wenn gar keine Häuser ringsum stünden. Das Blöde: Das sind oft Zonen, die frische Luft am dringendsten brauchen würden.

Legt man die Weatherpark-Kaltluftstromkarte und jene der bekannten Hitzeinseln der Stadt übereinander, überlappen sich die Problemzonen. Dort, wo es in Wien auch sozial, wohn- und freiraumtechnisch eng ist, klettert auch das Thermometer oft höher – und die kühle Abendbrise bleibt eher aus. Rund um Parks, Freiflächen, Wald oder Wasser kommt sie aber – wenn sie nicht auch lokal am Entstehen gehindert wird.

Asphalt speichert Hitze

Darauf zu achten, dass das passieren kann, betonen die Klimatologen, sei eine ihrer Botschaften an die Politik. Längst nicht nur in Wien: "Der Wienerwald ist geschützt. Aber was ringsum an Bodenversiegelung unvermindert vor sich geht, ist auch in diesem Kontext verheerend", greift Matthias Ratheiser das bekannte Thema von Österreich als "Europameister im Bodenvernichten" auf: "Beton- und Asphaltflächen speichern Hitze bis tief in die Nacht. Dort entsteht keine oder nur eine viel kleinere Kaltluftblase. Diese kühle Luft fehlt dann in der Umgebung."

Und auch dort, lokal, wäre das Wissen um diese abendlichen Luftgezeiten hilfreich. Das Wissen, wann die Abkühlung wo ankommt und wie stark sie ist, wäre nicht nur für Immo-Developer, Planer und Politik, sondern auch für Bürgerinnen und Bürger interessant, sagt Tschannett. "Wenn ich weiß, wann die kühle Brise meine Gasse am Abend erreicht, weiß ich, wie lange ich alles geschlossen halte – und wann ich alle Fenster aufreiße." (Tom Rottenberg, 10.6.2023)