Der große Verteilungskampf beginnt erst im Herbst, aber alle wichtigen Protagonisten bringen sich schon in Stellung für die kommenden Lohnrunden im Land. Gewerkschaften, Arbeitgebervertreter und zahlreiche Ökonominnen und Ökonomen haben sich auf die Bühne begeben und ihre Positionen eingenommen.

Den ersten Akt haben diesmal die Experten eröffnet: Der Chef des Forschungsinstituts Wifo, Gabriel Felbermayr, und der angehende Leiter des IHS, Holger Bonin, haben unter Arbeitnehmervertretern einen Proteststurm ausgelöst. Bonin hatte vorgeschlagen, die Laufzeit von Kollektivverträgen in Österreich von einem auf zwei Jahre auszudehnen. In Deutschland wird das zum Teil praktiziert, die Folge liegt auf der Hand: Die Löhne würden über 24 Monate an die Inflation angepasst werden, was zu Reallohnverlusten führen würde. Felbermayr warnte in der Presse vor dauerhaft höheren Lohnabschlüssen in Österreich über dem Niveau der Euroländer und plädiert für eine "Moderation" durch die Sozialpartner. Das wurde ihm vom ÖGB als Ruf nach Lohnzurückhaltung ausgelegt – was Felbermayr allerdings bestreitet.

Von ÖGB-Chef Wolfgang Katzian abwärts kam die Absage an solche Gedankenspiele. Aber sind die Denkanstöße wirklich falsch, oder sollte Österreich Lohnzurückhaltung probieren?

Ausgebrochen ist die Debatte, weil die Teuerungsrate in Österreich seit Monaten über dem Wert in der Eurozone liegt. Die Inflation im Jahresabstand betrug hierzulande im Mai 8,8 Prozent, in der Eurozone waren es 6,1 Prozent. Diese Kluft dürfte noch länger bestehen bleiben. Ein mögliches Problem daraus ergibt sich, weil Lohnabschlüsse ja für die Inflation kompensieren sollen.

Die Kluft wird größer

Steigen die Löhne in Österreich künftig stärker als in Europa, könnte das die Industrie im Wettbewerb unter Druck setzen. Und wenn Hotels zu teuer werden, fahren deutsche Urlauber vielleicht lieber in die Schweiz. In Ländern ohne gemeinsame Währung, Ungarn etwa, bleibt Staaten immer der Ausweg, die eigene Währung abzuwerten, um damit den Lohndruck zu lindern. Das hat zwar auch Nachteile, schafft aber den Vorteil, dass die eigenen Produkte mit einem Schlag fürs Ausland billiger werden. In der Eurozone ist dieser Weg natürlich verwehrt.

Tatsächlich ist sogar schon bemerkbar, dass die Löhne bei uns einen Tick stärker steigen als im übrigen Währungsraum. Die Statistik Austria misst die Entwicklung der Mindestlöhne in wichtigen Kollektivverträgen im sogenannten Tariflohnindex. Die Tariflöhne in Österreich liegen demnach im April 2023 im Vergleich zu April 2022 um sieben Prozent höher. In der Eurozone lag der am ehesten vergleichbare Lohnindex bei plus 4,4 Prozent. Dabei bilden diese Zahlen vor allem die Entwicklung der Teuerung 2022 ab, als die Inflation in Österreich und im Euroraum noch im Gleichschritt war. Die Kluft dürfte noch weiter auseinandergehen.

Lohnzurückhaltung dämpft Preise nur zum Teil

Was wäre nun aber die Folge einer Lohnzurückhaltung? Dafür ist es wichtig, sich die Abfolge bei Tarifverhandlungen vor Augen zu führen. Zunächst steigen die Preise, die Unternehmer für ihre Waren und Dienstleistungen verlangen, und erst mit einem Jahr Verzögerung erfolgt die Kompensation für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (siehe Grafik). Unternehmen haben also schon in einem ersten Schritt mehr Geld eingenommen. Erst durch die Lohnverhandlungen erfolgt ein Ausgleich für die schon abgeflossene Kaufkraft der Beschäftigten – bei einem Lohnverzicht würde dieser entfallen. Laut Wifo bleibt heuer die Lohnquote, die angibt, welcher Teil der Wirtschaftsleistung bei Beschäftigten landet, stabil. Aber das nur unter der Annahme, dass die Inflation ausgeglichen wird.

Nun geistert immer wieder die Idee herum, eine Art Deal zwischen Sozialpartnern abzuschließen, damit Arbeitnehmer weniger Lohnplus fordern und Unternehmer die Preise weniger stark erhöhen. Das Problem dabei ist bloß, wie inzwischen auch Felbermayr sagt: Die Sache funktioniert nicht.

Unternehmen haben ja schon für die Teuerung, die sie trifft, einen Ausgleich geschaffen, indem sie ihre Preise anhoben. Ein Verzicht würde vor allem die Arbeitnehmerseite treffen. Außerdem haben Unternehmen keinen Grund, ihre Preise nach einer Absprache nicht dennoch weiter zu erhöhen: Wer soll so eine Vereinbarung durchsetzen?

Dazu kommt noch ein Aspekt: Die Benya-Formel besagt, dass sich der Lohnabschluss aus der Inflation der vergangenen zwölf Monate plus dem Produktivitätswachstum der Gesamtwirtschaft ergibt. Ein Tarifvertrag unter dem Inflationsniveau hieße automatisch, dass der Produktivitätszuwachs allein bei den Unternehmen bleiben würde.

Eine andere Frage ist, wie sehr niedrigere Lohnsteigerungen die Inflation überhaupt dämpfen können. So klar ist das nämlich gar nicht. Laut der Nationalbank gilt für Österreich, dass ein Lohnanstieg um einen Euro die Preise um etwa 30 Cent steigen lässt. Dass die Löhne nicht mehr durchschlagen, kann mehrere Gründe haben, sagt Josef Baumgartner vom Wifo. Unternehmen können ihre Preise nur dann leicht weitergeben, wenn es ihre Wettbewerbssituation zulässt und die Nachfrage hoch ist. Manche Betriebe können höhere Kosten leicht schlucken, weil ihre Gewinnmargen hoch sind, andere nicht. So oder so: Bei einem erwarteten Lohnwachstum von etwa acht Prozent heuer liegt der Inflationsbeitrag durch die Tarifanstiege bei Gehältern bei 2,7 Prozentpunkten. Das ist nicht nichts, aber der Löwenanteil hinter den Preissteigerungen 2023 von sieben bis acht Prozent kommt doch von anderswo.

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APA/Techt

Welche Rolle die Unternehmensgewinne dabei spielen, dazu tobt ein Streit. Die Gewerkschaften kritisieren laufend die "Gierflation". Und es gibt Daten dazu, dass am Bau, in der Landwirtschaft und im Energiesektor die Preise tatsächlich mehr gestiegen sind, als dies durch höhere Kosten der Unternehmen erklärbar wäre. Wenn Arbeitnehmer nun verzichten, verlieren sie doppelt, als Beschäftigte und als Konsumenten, sagen Gewerkschaften. Gegenargument der Arbeitgeber: In vielen Sektoren haben Betriebe Gewinne nicht gesteigert, etwa in der Industrie. Verallgemeinerungen seien problematisch.

Und Felbermayr wendet generell ein, dass die Zahlen der Nationalbank die aktuelle Wirkung der Löhne auf die Preise unterschätzen dürften: Denn die Daten für Berechnungen stammen aus einer Zeit vor der aktuellen Hochphase der Inflation, als die Globalisierung noch dynamischer war und Konsumenten an Preissteigerungen weniger gewöhnt waren. Studien, um seine Annahme zu belegen, gibt es aber noch nicht.

Fazit: Die Löhne in Österreich werden stärker steigen als in der Eurozone, ein Reallohnverzicht würde zur Umverteilung zugunsten der Unternehmen führen und hätte Auswirkungen auf Preise, aber nur begrenzt.

Selbst wenn Löhne steigen: Der Staat kann helfen

Was sagen Experten? Christian Helmenstein, Chefökonom der Industriellenvereinigung, hält die österreichische Formel für Lohnverhandlungen prinzipiell für sinnvoll. In Sektoren, die im Wettbewerb stehen, können höhere Kosten allerdings sehr wohl zur Belastung werden, zumal die österreichischen Unternehmen Weltmarktpreise für ihre Produkte im Regelfall nicht bestimmen können.

Gabriel Felbermayr meint, dass der ÖGB ihn missinterpretiert habe: Wenn heimische Gewerkschaften im Herbst einen Reallohnzuwachs fordern, sei das "absolut legitim", zumal damit die Kaufkraft und damit die Wirtschaft stabilisiert werde. Wohl aber sollte im Hinblick auf Lohnrunden 2024 dafür gesorgt sein, dass Österreich nicht neuerlich mit höheren Inflationsraten kämpft als der Rest Europas. Dafür müsste der Staat mehr tun, um Preise zu dämpfen, Stichwort Mietpreisdeckel. ÖGB-Chefökonomin Helene Schuberth pflichtet bei. "In einer Marktwirtschaft funktioniere das nicht, dass die Politik zu den Unternehmen sagt, bitte seid nicht so gierig, und zu den Arbeitnehmern, bitte haltet euch bei Lohnforderungen zurück." Österreich habe viel ausgegeben als Reaktion auf die Inflation, aber preisdämpfende Maßnahme gehörten kaum dazu. Das sei ein Fehler.

Wollte die Regierung, könnte sie ausrechnen, um wie viel sie die Preise 2024 dämpfen müsse, um Lohnanstiege zu kompensieren. Es wäre ein erster Schritt hin zu einer neuen Strategie. (András Szigetvari, Michael Matzenberger, 7.6.2023)

Gerangel um Löhne
Die Lohnverhandlungen könnten schwieriger werden
Fatih Aydogdu