Nächste Woche wird die Europäische Zentralbank (EZB) die Zinsen ein weiteres Mal erhöhen, voraussichtlich um einen weiteren Viertelprozentpunkt. Viele Beobachter gehen davon aus, dass dann mit einem Leitzins von vier Prozent der Gipfel in der Zinsentwicklung in der Eurozone schon recht nahe sein dürfte. Allein: Ob das wirklich reicht, um die Inflation im Euroraum von derzeit immer noch 6,1 Prozent auf den Zielwert von zwei Prozent zu drücken, bleibt offen. Die Notenbank geht selbst davon aus, dass die Teuerung erst im dritten Quartal 2025 auf dieses Niveau sinken wird. Andere, wie der deutsche Ökonom Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, teilen diesen Optimismus nicht.

Wird die Zinsen weiter erhöhen: die Europäische Zentralbank.
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Vielmehr zeigen ihm zufolge die Pandemie, die Energiekrise oder nun die Probleme im Bankensektor, dass der Einfluss von Notenbanken auf die Inflation sukzessive abnimmt. "Diese Zeiten multipler Krisen in einer zunehmend global vernetzten Wirtschaft erfordern ein Umdenken und einen Strategiewechsel von Zentralbanken", sagt Fratzscher. Soll heißen, es wird auch für die EZB immer schwerer, die Inflation bei zwei Prozent zu halten. Daher rät er, das starre Inflationsziel über Bord zu werfen. Denn je länger die Notenbank dieses verfehle, desto mehr Glaubwürdigkeit verliere sie.

Angekratztes Image

Dies ist zwar richtig, allerdings würde die Vertrauenswürdigkeit der Notenbank wahrscheinlich vollends erodieren, sollte sie während der Teuerungswelle das alte, strenge Inflationsziel kassieren und durch ein leichter zu erreichendes – etwa drei Prozent jährlicher Preisauftrieb – ersetzen. Und Glaubwürdigkeit ist für Währungshüter jene harte Währung, mit der sie die Erwartungen von Finanzmärkten, Unternehmen und Haushalten lenken. Ist sie dahin, klappt dies nicht mehr – und die Reputation muss erst langwierig wiederaufgebaut werden. Zumal das Image der EZB ohnedies angekratzt ist, da sie im Vorjahr viel später als andere Notenbanken die Bedrohlichkeit der sich immer höher auftürmenden Inflationswelle erkannt und das geldpolitische Ruder herumgerissen hatte.

Dennoch ist klar: Zuerst muss die EZB das Mandat der Preisstabilität erfüllen und die Inflation auf zwei Prozent drücken – auch wenn sie dazu stärker und länger als derzeit erwartet auf die geldpolitische Bremse treten muss. Ein möglicher Strategieschwenk darf frühestens danach angedacht werden, selbst wenn es schon jetzt gute Argumente dafür gibt. (Alexander Hahn, 7.6.2023)