Kaum war der Kachowka-Staudamm im Süden der Ukraine geborsten, tobte auch schon wieder die Propagandaschlacht. Moskau und Kiew gaben sich am Dienstag gegenseitig die Schuld an dem Dammbruch, der zigtausende Menschen gefährdet, die Stromversorgung für Millionen bedroht und durch den raschen Abfluss der Wassermassen letztlich ein Risiko für die Kühlsysteme des stromaufwärts gelegenen Kernkraftwerks Saporischschja darstellen könnte.

Überschwemmungen und Zerstörung nach dem Bruch des Kachowka-Staudamms.
Imago/Itar-Tass

Die Argumente beider Seiten setzen an völlig verschiedenen Punkten an. So spricht der Kreml von einem "Sabotageakt" der Ukraine, die von ihrer stockenden Gegenoffensive ablenken wolle. Dem steht entgegen, dass Kiew bisher stets bemüht war, die lange erwartete Offensive eben nicht als großen Paukenschlag zu inszenieren. Eher verunsicherten die Ukrainer die russischen Besatzer mit kleineren Vorstößen, die auch im Falle des Scheiterns Raum ließen für den Rückzug – an der Kriegsfront ebenso wie in der öffentlichen Darstellung.

Während Moskau also die Erzählung vom selbstzerstörerischen Ablenkungsmanöver verbreitete, griff man in Kiew zu handfesten militärischen Analysen: Russland habe das Gebiet unterhalb des Staudamms geflutet, um eine ukrainische Offensive auszubremsen, sagte Andrij Jermak, Bürochef von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Da im Süden der Dnjepr zur Front geworden ist, dürften die Überschwemmungen die ukrainischen Vorstöße dort tatsächlich erheblich erschweren.

Schärfere Waffen

Moskau mag durchaus Abnehmer für seine Erklärungsmuster haben: Zum einen müssen der heimischen Öffentlichkeit nicht nur Erfolge, sondern auch immer neue Rechtfertigungen der "militärischen Spezialoperation" präsentiert werden. Und auch im Ausland mag es Menschen geben, die geneigt sind, stets um genauso viele Ecken zu denken wie der Kreml.

Klar, auch die angegriffene Ukraine kämpft an der Informationsfront und bedient sich entsprechender Waffen. Doch ausgerechnet am 24. Februar 2022 sind diese um einiges schärfer geworden. Davor hat sich Moskau gerne in die Opferrolle begeben – als übervorteilt, unterschätzt und vom gesamten Westen hintergangen. Die Schuld an Konflikten, sie lag in der Kreml-Diktion immer anderswo. Am Tag der Invasion wurde diese Stimme leer und brüchig. Das gilt auch für die Propagandaschlacht rund um den Kachowka-Staudamm: Ohne die Aggression Russlands, das der Ukraine verbieten will, eigene Wege zu beschreiten, würde dieser Damm noch stehen. (Gerald Schubert, 6.6.2023)