Lindemann bei einem Konzert im Jahr 2016. Geht es um die Geschlechterordnung, dann bewegen sich viele Bands nah an alten bürgerlichen bis katholischen Vorstellungen einer männlichen Überlegenheit.
Christian Fischer

Wie kann das im Jahr 2023 noch passieren? Diese Frage stellt sich angesichts der inzwischen zahlreichen Vorwürfe an die Band Rammstein, deren Mitarbeiter:innen und ihren Sänger Till Lindemann. Weibliche Fans und Konzertbesucherinnen erzählen von systematischen "Rekrutierungen" von jungen Frauen für Sex für Lindemann. Das berichtete auch die bekannte Youtuberin Kayla Shyx, die selbst vor einem Jahr auf einem Rammstein-Konzert war und auf eine After-Show-Party eingeladen wurde. Die Band dementierte erst kategorisch, nun hat sie ein Anwaltsbüro damit beauftragt, den Vorwürfen nachzugehen. Die Band soll sich zudem von der "Casting-Direktorin" getrennt haben, die die Frauen rekrutiert haben soll. Weitere personelle Konsequenzen sind bisher nicht bekannt, auch keine Konzertabsagen.

Frauen erzählen, dass sie sich nicht mehr erinnern könnten, was auf Partys mit Lindemann oder auch in seinem Hotelzimmer passierte. Sie berichten auf Social Media von blauen Flecken, Blutergüssen und tagelangen körperlichen Nachwirkungen und Schmerzen. Andere waren nicht benommen, hätten sich aber aufgrund der Situation, in der sie sich befanden, nicht getraut, Nein zu sagen.

Unsicheres Setting

Rammstein seien nun ein prominentes Beispiel für noch immer patriarchal geprägte Musikindustrien, sagt der Musiksoziologe Rainer Prokop von der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. "Man muss sich die Frage stellen, warum und wie solche Settings hergestellt und gedeckt werden, in denen jegliche Kontrolle und Regulierung nahezu unmöglich sind", sagt Prokop. Die systematische Rekrutierung von jungen Frauen für Pre- oder After-Show-Partys in Kombination mit "Silencing", also Druck- und Einschüchterungsmethoden, sei klar ein förderlicher Kontext für sexuelle Übergriffe und Gewalt.

Dass die Musikindustrie männlich dominiert ist, sei nichts Neues. Doch dass das Machtverhältnisse und Deutungshoheiten nach sich zieht, unter denen vorwiegend Frauen leiden, gerate gerne aus dem Blick. "Diese Dominanz ermöglicht es, dass es immer wieder neue Formen der Abwertung von Weiblichkeit gibt und Gewalt gegen Frauen normalisiert wird." Die Musikindustrien stellten den Profit über die Sicherheit und Unversehrtheit von Fans, aktive Anstrengungen im Hinblick auf nachhaltige strukturelle Veränderungen gebe es kaum, kritisiert Prokop. Das Problem dürfe auch nicht auf Rammstein reduziert werden, es gehe um Macht- und Ausbeutungsverhältnisse in der gesamten Musikindustrie.

Brave Geschlechterordnung

Das klingt wenig nach dem kapitalismuskritischen und antibürgerlichen Image, das sich Bands seit den 1960er-Jahren gern verpassen. Die Rockgeschichte sei maßgeblich geprägt von der Vorstellung einer "rebellischen Männlichkeit, die sich gegen bürgerliche Maßstäbe auflehnt", sagt Prokop. Obwohl man sich ständig an dem Bild des Rebellen abarbeitet, bleibe der patriarchale und maskulinistische Gestus aber aufrecht.

Bands wie Rammstein folgen demnach im Grunde einer bürgerlichen Vorstellung einer Geschlechterordnung, in der Männer Frauen dominieren. Ausdruck fand das bei Lindemann zum Beispiel in einem Text aus einem Gedichtband, in dem er eine Vergewaltigung einer bewusstlosen Frau beschreibt – bewusstlos wegen Rohypnol. Dies und Ähnliches wurde oft als "Provokation" interpretiert, außerdem habe man das künstlerische Schaffen von den jetzigen Vorwürfen zu trennen. Prokop: "Das Spiel mit Nazi-Ästhetik ist bei Rammstein ein weiteres Beispiel dafür, wie hegemoniale Männlichkeit, die mit Härte, Stärke und Durchsetzungsfähigkeit verbunden ist, ihren Ausdruck findet, auch hier geht es um Dominanz und Unterwerfung." Was als Provokation wahrgenommen werde, sei allerdings gut mit den vorherrschenden gesellschaftlichen Werten und Normen vereinbar. Sexualisierte Gewalt, Übergriffe und Rassismus seien mitten in unserer Gesellschaft, was wäre also der Gewinn, wenn man etwas real Existentes nochmals überzeichnet?, fragt Prokop.

Sexismus? Wo denn bitte?

Das Argument, das sei Kunst, sei oft ein Legitimationsmodus, sagt er. Denn es sei ein weiterer Aspekt männlicher Dominanz in der Musikbranche, dass seit jeher deutlich mehr Männer darüber entschieden hätten, ob etwas Kunst oder Nichtkunst, gute oder schlechte Kunst sei. So sei etwa der Einfluss von weißen, männlichen Musikjournalisten – zumindest vor dem Aufstieg der sozialen Medien – enorm gewesen. Seit den 1950er-Jahren waren es auch ihre Erzählungen über "Groupies", Frauen rund um Bands oder Musikerinnen – all diese Geschichten wurden von einem männlich geprägten Musikjournalismus geschrieben. Es waren fast nur Männer, die unter ihresgleichen künstlerische Phänomene einordneten. Geht es um die männliche Dominanz in der Musikindustrie, darf laut Prokop ihr Einfluss und ein Nebeneffekt nicht vergessen werden: Der Blick für Unterdrückung, sexuelle Ausbeutung von Frauen, für Strukturen, die sexualisierte Gewalt fördern, fehlte.

Ein weiterer Effekt: In der gesamten Kanonisierung der Pop- und Rock-Geschichte kommen zu einem überproportional hohen Anteil weiße, männliche Künstler vor – etwa in Form von Rankings zu den "besten Liedern" oder den "größten Alben" aller Zeiten –, wodurch die Figur des weißen, männlichen "Künstlergenies" mit all den ihm zugesprochenen Privilegien einzementiert wurde.

Es gebe viele Baustellen für die Musikindustrie, um an der männlichen Übermacht etwas zu ändern. Einer Übermacht, die, wie die aktuellen Vorwürfe zeigen, laufend Kontexte entstehen lasse, die sexuelle Übergriffe begünstigen, sagt Prokop. (Beate Hausbichler, 7.6.2023)