Fotos: Yelka von Langen

Anna Ewers Supermodel
Geboren in Freiburg, probeweise in der Toskana lebend: das deutsche Model Anna Ewers
Yelka von Langen

Ein kühler Abend, irgendwo zwischen Florenz und Cortona, toskanisches Outback, beim einzigen Wirt im Dorf, sonst gibt’s nichts zu erleben hier. Sie sitzt an ihrem Stammtisch am Kamin, auf einer Bank unter einem Fernseher, in dem laut italienische Nachrichten laufen. Ein Freund hat in der Gegend einen ausgebauten Steinturm gemietet, jetzt ist sie kurz hier, wegen dieses Lebensstils, bisschen Eremitin sein. Weil sie rauswill aus dem Zirkus, der um sie gemacht wird – zumindest irgendwann. Sie ist zu Besuch hier, etwas kompliziert, denn sie pendelt zwischen New York, Paris, Mailand, L.A., diese ganzen Modestädte. Eigentlich lebt sie in der Schweiz, weil sie die Berge ja so liebt und den Schnee. Sie heißt Anna Ewers, aus Freiburg, und hier werde ich sie einfach "Ewers" nennen, weil dieser deutsche Nachname, unbeholfen englisch ausgesprochen („Iwas“), in der internationalen Modeszene zu einer Marke geworden ist wie einst Brigitte Bardot, Claudia Schiffer oder Kate Moss.

Sie ist jetzt 30, und es ist schwer abzuschätzen, ob sie den Höhepunkt ihres Ruhms noch erreichen wird – oder ihn bereits überschritten hat. Richtig ist, dass sie seit mehreren Jahren zu den erfolgreichsten Models der Welt gehört, wenn man die Kampagnen zählt, die Covershootings oder die Gage. Ihr sind solche Vergleiche egal, zumindest behauptet sie das an diesem Abend. Und vielleicht stimmt es wirklich, warum würde sie sonst ein derart starkes Verlangen haben, sich irgendwann zurückzuziehen aus diesem von außen betrachtet perfekten Leben, "einfach abtauchen", wie sie sagt, um dann wie hier auf dem Land zu leben, beim Wirt sitzen, Rotwein trinken, gärtnern. Jetzt, während dieses Kurzurlaubs in der Toskana, probt sie dieses fast schon kitschig-banale Leben.

Anna Ewers Supermodel
In einem kleinen toskanischen Dorf irgendwo zwischen Florenz und Cortona genießt Ewers das Leben abseits des Trubels der Modewelt.
Yelka von Langen

Im Internet fand ich nur ein kurzes Porträt, ein rasches Treffen im Hotel, und ein Videogespräch der Vogue, Ewers sitzt im Schneidersitz in einer Wiese am Chiemsee und beantwortet Ja-nein-Fragen aus dem Off, gestellt von ihrem Freund Jim, auf Englisch. Eiscreme zum Frühstück? Yes. Den ganzen Sonntag im Bett bleiben? Yes. Eine Party crashen? Yes. Zähneputzen vergessen? Yes. Werden Träume wahr? Yes.

Die Luft steht, der Wirt kommt, Ewers spricht fließend Italienisch. Sie hat eine tiefe Stimme, zieht die Vokale lang und hat ein sanftes S. Sie summt die Wörter beinahe. Wir haben sie noch nie sprechen gehört. Wir kennen sie nur von Plakaten und aus Magazinen, seitenweise Ewers, für die größten Labels; Kampagnen, Editorials, Covers – sie hat alles durchgespielt. "You name it!", sagten Amerikanerinnen, mit denen ich im Vorfeld sprach, also "Sag mir eine große Marke, und du kannst sicher sein, Ewers hat dafür gearbeitet". Fotografiert von den berühmtesten Fotografen, mit einigen davon habe ich gesprochen. Mit Inez & Vinoodh und Luigi & Iango etwa, zwei Fotografenpaaren, mit denen Ewers immer wieder arbeitet. Und mit weiteren Vertrauten, Ewers’ besten Freundinnen. Sie alle sagen, dass Ewers nicht aussehe wie ein Model, zumindest nicht, wenn sie privat sei. Dann ist sie ganz anders als vor der Kamera, eher schüchtern und unscheinbar. Das stimmt, wenn ich sie so sehe, die Haare offen, Strickpullover, Grübchen, wenn sie lacht, und ich habe sie mir auch größer vorgestellt.

Anna Ewers Supermodel
Plötzlich wurde ihr alles zu viel, seither sucht sie die Ruhe in der Natur.
Yelka von Langen

Ich frage Ewers: "In der Toskana sein, niemanden sehen, verschwinden – ist das die Sehnsucht?" Damals, erzählt sie, es war die Zeit der ersten Pandemiewelle, wurde ihr bei einer großen Show alles zu viel. Sie fühlte sich gefangen, alle wollten was, Agenten riefen an, noch mehr Jobs, immer mehr. Sie wollte einfach nur noch schlafen. Nach der Show haute sie in die Schweizer Berge ab und spazierte stundenlang durch den Schnee. "Ewers ist in den Bergen", hieß es dann.

Die Luft beim Dorfwirt wird zäher, am Fernseher hinter Ewers kommt in den Nachrichten die Meldung des größten jemals gefundenen Trüffels. Etwa handballgroß, direkt hier um die Ecke. In großer Aufregung berichtet der Finder über den Moment, er gestikuliert mit den Händen, wie der Hund mit der Schnauze in der Erde gewühlt habe. Ewers erschrickt, entsperrt ihr iPhone, auf dem Bildschirm sieht sie ihr Wasserhund Otto an. Gerade bringt sie ihm bei, ebendiese Trüffel zu finden – die Gegend ist ein Hotspot. Der Bildschirm strahlt ihr Gesicht an, sie hat eine kleine Narbe an der Lippe, die ist mir nie aufgefallen. Modemarken retuschieren die meist raus. Als sie ein Kind war, wurde sie von einem Mischling ins Gesicht gebissen. Richtig zerfetzt, sie musste notoperiert werden. Die Eingangstür wird energisch aufgedrückt, es ist der Freund, und es ist weit nach Mitternacht. "Willst du auch ein Glas?", fragt Ewers. "Ich bin okay", sagt er streng und geht zum Wirt. "Er sieht ein bisschen aus wie der junge Willem Dafoe", sage ich. Ewers lacht. "Würde ihn das freuen?", frage ich, und Ewers sagt "bestimmt", aber als er zurückkommt, traue ich mich nicht, denn er scheint nicht spaßen zu wollen. "Es ist sehr ernst", sagt er, "ich habe mit meinem Freund Bruno aus dem Dorf gesprochen, die Mafia will die Hunde jagen. Alle reden von diesen bescheuerten Riesentrüffeln." – "Ach, wirklich?", sagt Ewers und nimmt einen Schluck. "Gerade war das auch im Fernsehen." Die Mafia kontrolliere das Trüffelgeschäft hier, habe Bruno erzählt. Sobald sie herausfinden, dass Hunde auf Trüffel abgerichtet werden, töten sie die und lassen es nach einem Unfall aussehen. "Vergiften?", fragt Ewers. "Erschießen", sagt er. Ewers wird unruhig. "Wir gehen besser", sagt sie, "der Hund ist ja alleine im Steinturm."

Knallhartbusiness

Sie ist im Freiburger Stadtteil Tiengen aufgewachsen, mit zwei älteren Schwestern, beide gut in der Schule. Ihre Eltern hätten das immer mehr honoriert, gute Noten, anständige Karrieren, solche Dinge. Ewers schwänzte manchmal die Schule, ging zu einer Freundin und schaute fünf Folgen der Horrorserie Scary Movie. Zu Hause durfte sie das nicht, ihre Computerzeit war auf eine halbe Stunde täglich beschränkt, sonst hätte sie ständig Sims gespielt und Harry Potter geschaut. Entdeckt wurde sie klassisch beim Feiern, ein Agent sprach sie an. Sie war fünfzehn. Ihre Eltern meinten, sie solle erst mal die Schule beenden. Sie ging ins Ausland, wie das so üblich war bei den Ewers, eine Schwester nach der anderen zog für ein Jahr in die USA, nach Japan und sie nach Kolumbien. Heimlich modelte sie dort ein wenig, als Lohn gab es ein Kleid oder eine Uhr. Später dann, mit achtzehn, nach dem Abitur, unterschrieb sie bei einer Agentur und fuhr für eine Woche nach Mailand. Sie lebte in einer Modelwohnung, in der junge Models aus der ganzen Welt im Matratzenlager in winzigen Zimmern schliefen. Sie erhielt eine Liste mit Castingterminen und ein Nokia-Handy und navigierte mit Straßenkarte durch die Stadt. Sie wartete teilweise stundenlang halbnackt in der Kälte oder arbeitete 36 Stunden durch, ohne zu duschen und zu schlafen. Casting, Show, Casting, Show. Knallhartbusiness eben – damals habe sie nicht drüber nachgedacht. "Ich war das brave deutsche Mädchen", sagt Ewers. "Ich habe nie gejammert. Ich habe immer alles mitgemacht." Nicht ein einziges Mal habe sie ein Shooting gecancelt, in ihrer ganzen Karriere nicht – auch nicht, wenn sie krank war. Das kam nie infrage, sagt sie, ein Team wartete schließlich auf sie, zwanzig, dreißig Leute – und die lässt man doch nicht warten!

Anna Ewers Supermodel
Ihren Durchbruch hatte Anna Ewers mit Designer Alexander Wang, damals Kreativchef bei Balenciaga.
Yelka von Langen

Ihren Durchbruch hatte sie mit Designer Alexander Wang. Er hatte damals die Kreativdirektion beim Pariser Traditionshaus Balenciaga übernommen und Ewers auf einem Modelblog entdeckt. Ich schreibe ihm per E-Mail. "Ich musste Ewers sofort haben", schreibt er zurück. "Warum dieses Verlangen?", schreibe ich. "Ich habe sie gesehen, in all ihrer Naivität und Verführung – sie brachte vom ersten Moment an Freude und Energie in jeden Raum." – "Ewers hat mir erzählt, dass sie sich zurückziehen will", sage ich, "wann wird es passieren?" – "Wissen Sie", schreibt Wang, "Ewers hat ihre Karriere von Anfang an genau geplant – ihren nächsten Schritt wusste immer nur sie selbst. Ich denke, sie wird irgendwann einfach abtauchen, ohne viel Tamtam. Dann ist sie einfach weg."

Autarkes Heim

Am nächsten Morgen, es ist schon wieder warm und hell und toskanisch, wir fahren in den Ort, Ewers will Rosen für den Garten kaufen. Sie will sie selbst einpflanzen, als Übung für die Farm später. Wenn sie verschwindet, will sie auf dem Land leben und Tiere haben, Kinder auch, zwei, drei, vielleicht vier. Ein self-sufficient House, ein paar Ziegen, Eigenerwerb, Gemüse und Obst anbauen. Sie übe schon, aber ganz klappt es noch nicht. Die Nutzpflanzen seien alle eingegangen. Es hat ja auch seit Wochen nicht geregnet. Erst gestern lag sie verzweifelt im Bett und hat gegoogelt: "Wasser knapp Regen sammeln". Sie überlegte, eine Plane zu spannen oder das Kondenswasser zu verwerten. Will sie später mal machen.

Anna Ewers Supermodel
Am liebsten würde nie wieder arbeiten müssen.
Yelka von Langen

Auf der Fahrt überlegt sie, wie viel sie für Rosen ausgeben will. Es darf nicht zu teuer sein, sagt sie, und da muss ich fragen, wie sie ihr Geld ausgibt, die Gagen sollen schließlich umwerfend hoch sein. "Sparen", sagt sie, "ich will nie mehr arbeiten müssen." Bei ihren Eltern, beide Lehrer, war das schon so, immer alles abwägen, Solardach wegen der Umwelt und der Kosten, Bioladen, aber auch mal Aldi, wenn’s günstiger ist. Ewers hat eine Wohnung in New York gekauft, Stadtteil Dumbo, zwischen Brooklyn und Manhattan Bridge, hundert Quadratmeter, loftmäßig, alles selbst umgebaut, mit Edelstahlküche und diesen ganzen Spielchen. Die will sie aufgeben, vielleicht. Weg aus der Stadt, die zehn Jahre ihre Heimat war, wo sie in einem Jahr mehr Geld verdiente als viele in einem ganzen Leben. Wo all die crazy Freunde sind, die Partys, wo’s laut ist – zu laut eben, zu eng.

Anna Ewers Supermodel
Weg aus der Stadt? Ewers probiert es aus.
Yelka von Langen

Die Rosen will sie bei einem jungen Paar kaufen, die Verkäuferin sieht sie bereits aus der Ferne. "Wow, sind Sie Schauspielerin?", sagt sie und streicht mit der Hand über ihre eigene Wange. "So ähnlich", sagt Ewers. "So ein schönes Gesicht! Das musst du dir ansehen!" Ihr Ehemann kommt aus dem Glashaus. "Wunderbar", sagt er. Die beiden empfehlen ihr die modernen Sorten Sally Holmes und Bobbie James – eine mit weißer und eine mit blauer Blüte. Die Stöcke passen kaum in ihr kleines Auto. Sie fährt weiter zum Hundefriseur, etwas ruckartig und ohne Blinken beim Abbiegen. "Oh Madonna", sagt die Friseurin und wackelt aus ihrem Salon. Sie ist kräftig, trägt ein viel zu großes rosa T-Shirt, rosa Plastikpatschen und eine schwarzgraue Stoppelfrisur. Sie schlägt die Hände zusammen und sagt: "Jetzt weiß ich erst, wer Sie sind, Madame." Im ganzen Ort haben sie schon gerätselt, wer zu Besuch hier ist mit diesem Gesicht und dieser Haut und diesem Gang und diesem Hund. Niemand wusste es, bis Claudio, der Supermarktbesitzer, ein Magazincover mit Ewers in den Händen hielt. "Madonna!", sagt sie wieder, "Supermodel!" Ewers lacht verlegen. "Ich weiß nicht", sagt die Friseurin, "ob wir Ihren Wünschen beim Hund gerecht werden können – ich habe sonst keine Stars als Kunden." – "Sie müssen nur die Ohren freischneiden", sagt Ewers. "Nur die Ohren, gut, gut", sagt die Friseurin. Sie wackelt wieder zum Friseurtisch zurück, wo ein weißer Pudel angehängt ist. "Bringt ihn einfach vorbei", sagt sie noch. "Das werde ich machen", sagt Ewers. Dann geht sie zu Claudio, dem Supermarktbesitzer. Er ist auch Metzger, steht hinter der Theke und schneidet Schinken. Er war es, der Ewers nun auch im Ort bekannt gemacht hat. Der Bäcker weiß es nun, die Friseurin, und damit eigentlich alle.

Irgendwann ist Schluss

Videoanruf bei den Starfotografen Luigi & Iango, sie haben sich in ihrem New Yorker Apartment im Bildbearbeitungsraum zurückgezogen. Am Laptop haben sie das erste Foto aufgemacht, das sie je von Ewers gemacht haben. Sie ist etwa 22 Jahre alt, hergerichtet wie einst Brigitte Bardot, mit Haarspray, voluminöser Frisur, üppiger Schminke. Luigi beginnt gleich zu schwärmen, bevor ich fragen kann: "Sie überrascht mich jedes Mal – obwohl ich sie schon so gut kenne. Die Art, in der sie spricht, wie sie isst, sie gibt dir das Gefühl, dass du sie verdient hast." – "Ja", unterbricht Iango, "aber du bekommst nie die ganze Ewers."

Vielleicht ist das auch der Erfolg ihrer zehnjährigen Karriere, denn auch mir war es aufgefallen: Mit wem immer sie spricht, vom Rosenverkäufer bis zur Friseurin – für ein paar Minuten gibt sie sich ganz hin. Doch irgendwann ist Schluss, als gäbe es eine Schwelle, die niemand überschreiten kann. Wie ein Schutzmechanismus aus vielen Jahren Blitzlicht.

Anna Ewers Supermodel
Spaghetti-Essen im Garten
Yelka von Langen

Ein paar Stunden später, es wird Abend, Ewers steht in der Küche und kocht Spaghetti. Sie teilt davon nichts im Internet. Keine Instagram-Story, kein "Wie geht’s euch"-Video. Wir essen auf der Wiese, an einem massiven Holztisch, auf filigranen Stühlen mit Füßen, die in der feuchten Erde einsinken. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer ihrer guten Freundinnen, die gesagt hat: "Sie kommt aus einer Zeit, in der die Grenzen noch klar waren." Ich habe das nicht verstanden, aber jetzt weiß ich, was sie meinte: Ewers ist ein Supermodel – und genügt sich vollkommen in der Rolle. Wenn sie am Set ist, arbeitet sie, wenn sie zu Hause ist, macht sie frei. Ich will noch einmal fragen: Dieser Tag heute, dieses Landleben – ist das wirklich diese eine Sehnsucht? Soll es so für immer sein? Ewers greift nach den Speisen, ihre Hand baumelt am Gelenk wie die eines Puppenspielers, doch groß und kräftig, mit groben Linien, zum Töpfern und Malen und Umgraben im Garten. Das Toskanalicht fällt viel zu schön aufs Feld. Ich bewahre die Frage für später auf. Doch als wir wieder zum Wirt aufbrechen wollen, liegt sie eingeringelt auf dem Sofa des Steinturms. Ewers schläft. Wir haben uns nicht mehr gesehen. Niemand bekommt die ganze Ewers. Wenn wir uns fragen, wo sie ist, ist sie längst weg. (Gabriel Proedl, 8.6.2023)