Er war der zweite Verlierer am Sonderparteitag der SPÖ. In dem Moment als Hans Peter Doskozil zum neuen Parteichef der Sozialdemokratie, als Nummer 13 an der Spitze der Roten, verkündet wird, erhebt sich Michael Ludwig von seinem Sessel, nur wenige Plätze neben Andreas Babler, und schließt sich den Standing Ovations für den Burgenländer emotionslos an. Dabei ist es ein Schlag ins Gesicht der Wiener Landesorganisation. 

Michael Ludwig und Pamela Rendi-Wagner bei der Frauenkonferenz der SPÖ Wien.
Heribert Corn

Im internen Rennen um den Parteivorsitz zählt der Wiener Parteichef zu Pamela Rendi-Wagners wichtigsten Unterstützern und zu einem der größten Kritiker Doskozils. Er und die Wiener SPÖ wollen sie ursprünglich gar nicht: die Mitgliederbefragung. Die Stadt-Roten wollen die Frage um den Vorsitz kurz und bündig von einem Parteitag entschieden wissen. Es ist die erste in einer Reihe von vielen Niederlagen, die Ludwig in den vergangenen Wochen einstecken muss. Die zweite und dritte folgen sogleich. Seine Kandidatin, die ehemalige Parteichefin, kommt nur als Dritte aus dem Basisvotum heraus und tritt ab. Da dreht sich Ludwig: Er will eine Stichwahl – durch die Mitglieder. Doch die Entscheidung soll am Parteitag fallen. Dort sagt Ludwig am Ende in eine Kamera: Es sei ein demokratisches Ergebnis. Das Ergebnis gelte es zu akzeptieren. Er ist sichtlich gezeichnet von dem, was da gerade passiert ist. Es wirkt fast, als könnte er es nicht fassen.

Hatte Doskozil im internen Rennen also recht? Bröckelt die Macht der Wiener? Oder: War Wien gar nie so mächtig, wie man in der Bundeshauptstadt gerne denkt? Unter einem Parteichef Doskozil wäre es jedenfalls so, die Achse Wien–Bund wäre gebrochen. 

Vom Verlierer zum Gewinner

Was Michael Ludwig nicht tut: Doskozil öffentlichkeitswirksam gratulieren. Zwei Tage später, am Montag, wird die Welt von Ludwig erneut umgeworfen. Ein Eintragungsfehler bei der Auszählung. Babler ist Parteichef. Ludwig twittert: "Ich gratuliere Andi Babler. Er ist ein engagierter, dynamischer Sozialdemokrat und neuer Bundesparteivorsitzender der SPÖ." 

Die Machtfrage ist plötzlich wieder eine ganz andere. Ludwigs "Wiener Weg" kann wieder über die Stadtgrenzen hinaus verlaufen. Der Bürgermeister ist nicht mehr der Verlierer, der aufs falsche Pferd gesetzt hat – er ist Königsmacher. Der die wichtigen Stimmen aus Wien geliefert hat. Mehr als 90 der 609 Delegierten am Bundesparteitag kommen über die Bezirksorganisationen und das Land Wien. Sie sind diszipliniert, stehen bis auf vereinzelte Ausreißer hinter Babler.

Von rechts nach links

Obwohl Ludwig inhaltlich nicht mit Babler in allen Punkten übereinstimmt, mit dem Links-Kurs, den der neue SPÖ-Chef angekündigt hat, kommt er zurecht. Einst galt Ludwig im Wiener Flügelstreit noch als der Anwärter rechts von Andreas Schieder. Aber innerhalb der Bundes-SPÖ steht Ludwigs Politik in Wien mittlerweile auf der linken Seite der Skala. Der Bürgermeister wird künftig der Realpolitiker neben dem selbsternannten Träumer im Bund sein. Babler kann zeigen, wo es mit der Sozialdemokratie hingehen könnte. Ludwig ist der Pragmatiker, der in der Stadt umsetzt. Auch wenn Bablers Ansagen von einer linken Utopie der Sozialdemokratie weit weg von dem, was Ludwig tut, scheinen – mit Doskozil hätte sich der Wiener Bürgermeister weitaus schwerer getan. Das war schon so, als die beiden einander als Landeshauptleute gegenüberstanden.

Michael Ludwig verfolgte den Bundesparteitag in Linz aus der ersten Reihe.
Heribert Corn

Etwa beim Thema Asyl und Migration ist Wien anders als sein östlicher Nachbar. Obwohl die Bundeshauptstadt und das Burgenland die einzigen beiden Länder sind, die ihre Unterbringungsquote für Asylwerber erfüllen: Während sich Doskozil etwa 2020 dagegen ausspricht, dass man Flüchtlingskinder aus dem abgebrannten griechischen Lager Moria aufnimmt, weil es eine "Einzelmaßnahme, um sein soziales Gewissen zu beruhigen", sei, sieht Ludwig das anders: Er bietet an, 100 Kindern Schutz in Wien zu geben. Und auch bei der Staatsbürgerschaft ist Ludwig bei Babler. Die Burgenländer sprachen sich explizit gegen einen Vorstoß der Wiener aus, die Einbürgerungen zu erleichtern.

Hans Peter Doskozil und Michael Ludwig in Rahmen einer Landeshauptleutekonferenz.
APA/GEORG HOCHMUTH

Die Animositäten zwischen Wien und dem Burgenland liegen aber schon viel weiter zurück. Es begann mit Rot-Blau im östlichsten Bundesland. Der damalige Wiener Bürgermeister und Ludwig-Vorgänger Michael Häupl kritisiert den burgenländischen Landeshauptmann Hans Niessl: "Rot-Blau ist völlig falsch." Ein erster Bruch. Unter den neuen Landeschefs Ludwig und Doskozil verbessert sich später die Beziehung. Bis sie wieder einfriert. Stichwort: Corona-Pandemie. Da verlässt das Burgenland vorzeitig den sogenannten Ostlockdown. Ludwig soll es ihm nicht verziehen haben. 

Wiener Hochmut

Aber auch im Rest des Landes wird über den Hochmut Wiens geklagt. Im Westen regt sich ebenfalls Widerstand. "Westachse" nennt sich die Gruppe junger SPÖ-Chefs, die sich während der laufenden Mitgliederbefragung zusammengeschlossen hat, um "klare Ansagen" zu machen. Es ist eine Allianz derer, die es schwer haben in der Partei. Georg Dornauer ist in Tirol der kleine Koalitionspartner der ÖVP, Sven Hergovich ist in Niederösterreich, Michael Lindner in Oberösterreich über das Proporzsystem zwar in der Regierung, aber nicht Teil der Koalition und David Egger in Salzburg ganz außen vor. Mit Aussagen wie etwa "die SPÖ zur Mehrheitsfähigkeit zu bringen" und eine "pragmatische Politik der neuen Mitte" zu betreiben, fallen sie im internen Wahlkampf auf. Als Unterstützer Doskozils und damit indirekt auch als Gegner Ludwigs. 

Und während ihre Länder in der Vergangenheit unter der zerstrittenen Bundespartei auch bei Wahlen leiden, ist den Wienern eine starke Parteispitze gar nicht so wichtig. Und so war es auch Wien, das – wie auch das Burgenland – trotz schwacher Bundespartei bei der Wahl mitten in der Corona-Pandemie dazugewinnen konnte. Seit Montag kann sich die Partei auch über den Sieg im internen Rennen freuen. 

Neuer Leiter der Löwelstraße

An diesem Abend feiern Unterstützerinnen und Anhänger von Babler in einem Wiener Gürtellokal. Hier im Roten Bogen hat alles begonnen, hier hat der Traiskirchener seinen ersten Wahlkampfstopp hingelegt. Erst verhalten, dann immer ausgelassener. Es gibt "Andi"-Sprechchöre, Arbeiterlieder werden gesungen, Bier wird getrunken. Ein Wellenbad der Gefühle ist das, was die jungen Roten in den vergangenen Tagen durchgemacht haben. Heute fällt die Anspannung ab. Auch viele Mitglieder der SPÖ-Alsergrund feiern an diesem Abend. Babler telefoniert zu diesem Zeitpunkt bereits herum. Er sucht Menschen für sein Team.

Christian Sapetschnig mit Bezirksvorsteherin Saya Ahmad bei den Wiener Linien.
BV9

Am Mittwoch wird Babler Christian Sapetschnig als interimistischen Leiter der Löwelstraße vorschlagen. Ein junger Wiener. Sapetschnig ist der stellvertretende Bezirksvorsteher im Alsergrund, wo er Saya Ahmad vertritt, auch sie machte sich im internen Wahlkampf für Babler stark. Es ist aber auch jene Bezirksorganisation, in der Nikolaus Kowall mitmischt. Kowall meldete sich sehr schnell als Kandidat bei der Mitgliederbefragung, zog aber für Babler zurück. 

Michael Ludwig ist nicht bei dem Fest. Klar. Aber eine junge Aktivistin spricht aus, was er sowieso nicht aussprechen würde: "Es ist auch gut für die Wiener Landesorganisation. Jetzt kann sich auch der Ludwig wieder denken, dass er weiter zu den Mächtigen in der Partei zählt und das Wort aus Wien Gewicht hat." Das kann er. Auch wenn er dafür seinen Kurs kurzfristig ändern musste, nachdem seine erste Wahl nur Dritte wurde. (ook, 7.6.2023)