In seinem Gastkommentar zeichnet der Politikwissenschafter Alexander Rhotert drei Jahrzehnte der Irrwege westlicher Beschwichtigungspolitik auf dem Westbalkan nach.

Im Oktober letzten Jahres änderte der Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft für Bosnien und Herzegowina, der ehemalige deutsche Landwirtschaftsminister Christian Schmidt, das Wahlgesetz des Landes und die Verfassung des von Bosniaken und Kroaten dominierten Landesteils, der Föderation. Ziel dieser Änderungen war die Zementierung der Macht der laut Bundestagsentscheidung von 2022 "völkisch-nationalistischen" kroatischen Acht-Prozent-Partei HDZ. Schmidt streitet dies ab, die Regierung der Republik Kroatien jedoch spricht davon, dass Schmidts Intervention "zum Nutzen der Kroaten in Bosnien" geschehen sei. Außenminister Gordan Grlić Radman nannte dies einen "großen Erfolg von Ministerpräsident Plenković". Seine kroatischen Freunde in Zagreb haben Schmidt Lügen gestraft.

Umstrittener Hoher Repräsentant: Christian Schmidt.
Foto: Reuters / Dado Ruvic

Diplomatischer Fauxpas ersten Ranges

Trotz fehlender Unterstützung aus Berlin und Brüssel und offener Kritik des EU-Parlamentes, von ehemaligen Diplomaten, Wissenschaftern, NGOs wie des Freedom House, sowie mehrerer Groß-Demonstrationen gegen Schmidt, setzte er am 27. April noch einen drauf: Da seine Oktober-Erlasse nicht den erwünschten Durchbruch brachten, um eine HDZ-gesteuerte Föderationsregierung zu installieren, verfügte er, dass nun die kroatische Föderationspräsidentin und ihr serbischer Stellvertreter den bosniakischen Stellvertreter überstimmen können, um eine Regierung zu bilden. Wohlgemerkt stellen Serben und Kroaten in der Föderation weniger als 20 Prozent der Bevölkerung, die Bosniaken aber über 80 Prozent. Gerade im zeitgeschichtlichen Kontext der serbisch-kroatischen Angriffskriege gegen Bosnien ist dies ein diplomatischer Fauxpas ersten Ranges. Tags darauf kam es zu neuen Demonstrationen gegen Schmidts Erlasse, ein absolutes Novum in der fast 30-jährigen Nachkriegszeit.

Protest gegen Schmidts Erlasse am 28. April in Sarajevo.
Foto: EPA / Fehim Demir

Schmidt begibt sich damit in die Tradition zweier internationaler Vermittler während des Krieges, Lord David Owen und Yasushi Akashi, denen es primär darum ging, die Aggressoren Belgrad und Zagreb zu beschwichtigen, um einen schnellen Friedensschluss um jeden Preis zu erreichen. Heute wird versucht, um jeden Preis "Ruhe" auf dem Balkan zu erzwingen. Diese Ruhe sollen, so die Sichtweise der USA, Serbien und Kroatien als "Stabilitätshegemonen" garantieren. Dies könnte das Ende der recht erfolgreichen Westbalkan-Politik Washingtons ab Ende der 1990er Jahre sein. Bis 1999 war nämlich auch der serbische Präsident Slobodan Milošević der Stabilitätsfaktor gewesen, dessen Platz sein Nachfolger Aleksandar Vučić nun einnehmen soll.

"Washington hat de facto die Böcke zu Gärtnern erkoren."

Drei Jahre nach dem Friedensschluss von Dayton, der den Bosnien-Krieg Ende 1995 beendete, begannen Miloševićs Truppen mit einer erneuten Aggression, diesmal gegen die Albaner Kosovos. Nun setzte sich im Westen die Erkenntnis durch, dass Milošević kein Stabilitätsfaktor ist. Nach vier Angriffskriegen, 130.000 Toten und vier Millionen Flüchtlingen von 1991 bis 1999, leitete der Westen mit der Nato-Bombardierung Serbiens 1999 eine 180-Grad-Wende ein, die zu einem tiefgreifenden Politikwechsel auf dem Westbalkan führte: In Serbien wurde der Reformer Zoran Đinđić Ministerpräsident und in Kroatien der Liberale Stjepan Mesić Präsident. Selbst in Bosnien kam eine liberaldemokratische "Allianz für den Wandel" in Regierungsverantwortung. Solange Washington und Brüssel an einem Strang zogen, ging es in Europas "Innenhof" bergauf. Doch sind mittlerweile in Serbien und Kroatien wieder nationalistische Kräfte an der Macht, denen die Existenz eines muliethnischen Bosniens ein Dorn im Auge ist, ähnlich wie Russland die Existenz einer demokratischen Ukraine zuwider ist. Damit hat Washington de facto die Böcke zu Gärtnern erkoren, mit dem Ziel, Belgrad aus der Russland-Allianz herauszulösen.

Washington verkennt hierbei, dass Belgrad seit fast 35 Jahren der regionale Hauptunruhefaktor und seit Jahren Moskaus Außenposten auf dem Westbalkan ist. Der ehemalige hochrangige US-Diplomat Daniel Serwer nennt Washingtons Ansatz "Fantasie-Diplomatie", die von "Appeasement" geleitet sei. Diese Politik verkennt, dass nicht die Bosniaken in Bosnien oder die Albaner im Kosovo das Hauptproblem sind, sondern die aggressive Politik Serbiens gegenüber seinen Nachbarn. Nach Lesart Washingtons soll Belgrads Wohlwollen nun eingekauft werden. Dieser neuerliche Beschwichtigungsversuch ist zum Scheitern verurteilt. Er wird Belgrads Aggressivität noch ermuntern und in einer Sackgasse enden, wie es gerade im Kosovo geschieht.

Dreiteilung Bosniens

Im Jänner 1993 hatten die Vermittler von UN und EU, Cyrus Vance und Lord David Owen, den nach ihnen benannten Vance-Owen-Friedensplan vorgestellt, der de facto eine Dreiteilung Bosniens vorsah und somit den serbischen Aggressor belohnt hätte. Der Hauptprofiteur dieses Plans wäre jedoch die kroatische HDZ Bosniens gewesen: Mit nur 17 Prozent Bevölkerung sollte sie ein Drittel des Territoriums bekommen. Und genau diese HDZ ist von Schmidt und den USA nun auserkoren, den größeren Teil Bosniens zu führen, in dem 80 Prozent Bosniaken leben. Der jetzige HDZ-Vorsitzende Dragan Čović war während des Krieges als Manager des Flugzeugbauers Soko bei Mostar, für den er bosniakische Zwangsarbeiter angefordert haben soll. All dies wurde jedoch im Juli 1995 durch die serbische Barbarei in Srebrenica übertroffen, die durch die UN hätte verhindert werden können: UN-Vermittler Yasushi Akashi setze auf Beschwichtigungspolitik. Trotz lückenlos dokumentierter Versprechen der UN-Führung die UN-Schutzzone Srebrenica zu verteidigen, weigerte sich Akashi tagelang, die Nato zu autorisieren gegen die vorrückenden serbischen Truppen einzuschreiten. Sowohl die kroatische wie auch die serbische Aggression wurden letztendlich durch US-Interventionen gestoppt, politisch-diplomatisch wie auch militärisch.

"Wer glaubt, es gäbe schnelle Lösungen für den Westbalkan, wird schnell einsehen, dass dies illusionär ist."

Knapp 30 Jahre später besteht die Führung Serbiens unter Vučić teilweise aus ehemaligen Gefolgsleuten Miloševićs, die an der Kriegspolitik der 1990er Jahre beteiligt waren. Wer glaubt, es gäbe schnelle Lösungen für den Westbalkan, wird schnell einsehen, dass dies illusionär ist. Vučić hat nach den letzten Verhandlungen mit Kosovo bereits mehrfach gesagt, mit ihm werde es keinen Vertrag geben. Man sieht, dass er sich durch Washingtons Beschwichtigungspolitik ermutigt fühlt.

Instrument und Erfüllungsgehilfe

Heute wird Schmidt durch eine paradoxe Koalition zwischen Washington, Budapest und Zagreb als Instrument und Erfüllungsgehilfe benutzt. Schmidt hat eine allgemeine Ethno-Radikalisierung eingeleitet. Und er hat es tatsächlich geschafft, einen Großteil der Bevölkerung gegen sich aufzubringen. Das ist ein Negativrekord in der 28-jährigen Geschichte des Friedensprozesses. Rätselhaft ist, warum sich die deutsche Ampelkoalition und Brüssel mit einer Hinterlassenschaft aus der Merkel-Ära belasten, die für Deutschland und die EU einen Scherbenhaufen hinterlassen wird.

Um das Friedensabkommen für Bosnien zu retten, bedarf es eines ehrlichen und integren Maklers oder einer Maklerin, da Schmidt verbrannt ist. Um den Westbalkan nachhaltig zu befrieden, sollten Brüssel und Berlin auf Washington einwirken und gemeinsam gegen die Nationalisten und Expansionisten vorgehen und demokratische und liberale Kräfte unterstützen. In allen Ländern des Westbalkans, vorbehaltlos und mit einem langen Zeithorizont.

Experiment mit offenem Ausgang

Der freie Westen hat Wladimir Putin ebenso wie Milošević und jetzt Vučić zu lange gewähren lassen, ja mit ihnen wirtschaftlichen kooperiert. Es ist offensichtlich, dass dies weder im Falle Russlands funktioniert hat noch bezüglich Serbien funktionieren wird. Die letzten serbisch initiierten Angriffe auf kosovarische Sicherheitskräfte und Soldaten der Nato-Schutztruppe KFOR haben dies wieder einmal demonstriert. Wenn man zugrunde legt, dass die "Blut-und-Boden-Ideologien" Moskaus wie auch Belgrads auf einem Fundament fußen, dann erscheint es höchst zweifelhaft, warum Belgrad sich kaufen lassen sollte.

Der US-Unterhändler des State Departments, Derek Chollet, antwortete vor kurzem bei einer Anhörung vor dem Außenausschuss des US-Kongresses auf die kritischen Fragen des Vorsitzenden, des demokratischen Senators Bob Mendez, warum die USA primär die Regierung Kosovos kritisierten und nicht die serbische und ob die serbische Seite ein "verlässlicher Partner" sei: "Also, Herr Vorsitzender, das ist etwas, was wir testen müssen." Laut Chollet handelt es sich hierbei also um ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Ein solches könnte eine ganze Region in Flammen setzen, wie wir dieser Tage im Kosovo gesehen haben. (Alexander Rhotert,7.6.2023)