Rammstein
Frontsänger Till Lindemann beim Livekonzert von Rammstein auf der Europatournee in Dänemark am 2. Juni des Jahres.
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Mit vier Konzerten in München startet die Band Rammstein ab heute, Mittwoch, die Deutschlandroute ihrer aktuellen Europatournee. 240.000 Menschen werden zu den vier Terminen im Olympiastadium erwartet. Aufgrund der im Raum stehenden Vorwürfe gegen Frontmann Till Lindemann wegen sexueller Ausbeutung finden die Shows unter besonderer Anspannung statt. Zwar gibt es bereits erste Konsequenzen im Hinblick auf den Ablauf der Livekonzerte – sowohl die umstrittene Row Zero soll leer bleiben sowie ein neues Konzept für die After-Show-Partys umgesetzt werden. Aber reicht das, um die Musik genießen zu können? Die Frage stellt sich für Fans spätestens bei den Wien-Konzerten am 26. und 27. Juli im Ernst-Happel-Stadion.

Pro: Rammstein gehört gehört

Wer gewohnheitsmäßig der Musik von Rammstein lauscht, bleibt von Unbehagen nicht verschont: Zweideutigkeit, praktiziert in Gedanken, Worten und Stechschritten, bildet die Geschäftsgrundlage der Ostdeutschen. Seit Tagen steht der Vorwurf im Raum, Sänger Till Lindemann habe sich Frauen zuführen lassen, um mit ihnen auch ohne Einvernehmen Sex zu haben. Wiederum gilt die Unschuldsvermutung. Doch das kolportierte Omnipotenz-Gehabe, das den Umgang mit jungen Frauen als Stelldichein auf der Frischfleischbank inszeniert, ist schwer erträglich.

Amoral gehört zu den großen Freiheitsversprechen moderner Künste. Dunkle Regungen sind in deren Gruseltheater ebenso repertoirefähig wie überzogene Darstellungen von Gewalt. Kunst muss verstörungsfähig sein. Nur so, in der Rückhaltlosigkeit mancher ihrer Übertreibungen, behält sie recht – gegen die Übermacht einer heillosen Wirklichkeit.

Jedem und vor allem jeder bleibt es selbst überlassen, ob er/sie ein Rammstein-Konzert besuchen möchte. Es kann dennoch notwendig sein, zwiefältig zu denken: Gegenüber einer Lebenswelt, die ihrerseits von Gewaltverhältnissen geprägt ist, bleibt der Eigensinn von Kunst ein erhaltungswürdiges Gut. Till Lindemann mag aufgrund seines kolportierten Verhaltens persönlich abstoßend sein. Das Musikkunstwerk Rammstein gehört gehört. (Ronald Pohl, 7.6.2023)

Contra: Frauenverachtung nicht finanzieren

Rammstein gehören zu meinen frühesten Fortgeh-Erinnerungen. Und obwohl ich die Band wegen ihrer Deutschtümelei nicht besonders mochte, brannten sich die Textzeilen in der Intonation des Leadsängers Lindemann in mein Gedächtnis: "Mutterrrr, Sonnnnne, Engelll". Später habe ich (erfolgreich) versucht, ihre Musik und ihr Image auf eine distanzierende Metaebene zu heben, und wegen der bombastischen Pyroshows war ich letztes Jahr tatsächlich kurz davor, mir ein Konzertticket zu kaufen.

Durch die Anschuldigungen gegen Lindemann ist die Metabene nun in sich zusammengesackt. Das brachiale Peniskanonen-Bühnen-Ich, das Gewaltfantasien-dichtende lyrische Ich scheint identisch mit dem Menschen geworden zu sein. Natürlich gilt die Unschuldsvermutung gegenüber dem Sänger, und natürlich ist es notwendig, dass die Vorfälle hinsichtlich ihrer Strafbarkeit geprüft werden. Aber selbst wenn die Sexualkontakte mit blutjungen Groupies auf Freiwilligkeit beruhen, so bliebe doch ein schaler Beigeschmack, jetzt, wo man weiß, wofür die kurze Pause vor dem Deutschland-Lied genutzt wird. Möchte ich die frauenverachtenden Texte und das von Youtuberin Kayla Shyx geschilderte Rekrutierungssystem finanzieren oder gar feiern? Nein.

Wenn man nun bereits ein teures Ticket für ein nahendes Konzert gekauft hat, was dann? Angesichts des Vertrauensbruchs zwischen Fans und Band (die Bandmitglieder haben sich bisher nicht distanziert), wäre es unbedingt notwendig, Druck auf die Veranstalter auszuüben, damit sie die Tickets zurücknehmen. Denn ein Verkaufen oder Verfallenlassen auf eigene Kosten würde die Millionenmaschine Rammstein ungeniert weiterlaufen lassen. (Valerie Dirk, 7.6.2023)