Jo Angerer aus Moskau, Daniela Prugger

Früh am Morgen kam der Anruf. "Es tut mir so leid, was passiert ist", sagt ein besorgter Bekannter. "Der Staudamm ist gebrochen." Sprachlos und unter Schock, so habe sie sich gefühlt, erzählt Olia Hercules dem STANDARD am Telefon mit gebrochener Stimme. Die 39-jährige Autorin und Aktivistin, die in London lebt, ist in der von russischen Truppen besetzten Ortschaft Kachowka aufgewachsen. Das Haus der Familie werde längst von russischen Soldaten bewohnt. "Eigentlich wollte ich mir endlich eine Auszeit nehmen von den ganzen Nachrichten, den guten und den schlechten, und da sein, für meine Familie. Aber das funktioniert nicht, wenn dein Land im Krieg ist."

Nach dem Kachowka-Dammbruch stieg der Wasserspiegel flussabwärts an. Massive Überschwemmungen sind die Folge.
REUTERS

In den frühen Morgenstunden des 6. Juni brach der Kachowka-Staudamm in der südukrainischen Region Cherson. Einen Tag später sind die Folgen unabsehbar. 2.500 Quadratkilometer waren am Mittwochnachmittag überflutet, das zeigten Satellitenbilder. Ukrainische Behörden leiteten die Evakuierung von rund 17.000 Menschen ein, auf der von Russland besetzten Seite sollten weitere 25.000 Betroffene ins Hinterland gebracht werden. Die russischen Behörden verhängten den Notstand, laut dem von Russland eingesetzten Bürgermeister der Stadt Nowa Kachowka, Wladimir Leontjew, würden sieben Personen vermisst. In der Überschwemmungszone seien russischen Angaben zufolge weitere 17 Menschen von den Dächern ihrer Häuser gerettet worden. Rund 2.700 Häuser seien überflutet.

Während in Nowa Kachowka der Wasserstand auf den Straßen zu sinken begann, stieg dieser flussabwärts am Ufer des Dnjepr weiter an. Am schwierigsten sei die Lage im Viertel Korabel in der Großstadt Cherson, erklärte der stellvertretende Kabinettschef des ukrainischen Präsidenten, Oleksij Kuleba. Das Wasser habe dort einen Stand von 3,5 Metern erreicht, mehr als 1.000 Häuser seien überflutet. "Die Bewohner sitzen auf den Dächern ihrer Häuser und warten auf ihre Rettung.“

Sorge wegen Langzeitfolgen

Es handelt sich um eine Katastrophe in der Katastrophe, deren ganzes Ausmaß derzeit noch gar nicht abgeschätzt werden kann. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba beschreibt die massiven Überschwemmungen als eine der größten von Menschen verursachten Katastrophen in den vergangenen Jahrzehnten. Erste Bilder und Videos zeigten ältere Menschen, die evakuiert wurden, verendete Tiere, ganze Häuser, die weggeschwemmt wurden. Mehr als 16.000 Menschen und 80 Ortschaften seien laut dem Gouverneur von Cherson direkt von den Fluten betroffen, auch in dem Gebiet, das derzeit noch immer von russischen Truppen besetzt wird.

Stromaufwärts sind im Dnjepr wegen des sinkenden Wasserstands zahlreiche Fische verendet.
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Die Überflutungen werden bald zurückgehen – die Langzeitfolgen bleiben. Hauptproblem könnten Minen seien. Einige russische Minenfelder bei Nowa Kachowka seien überflutet worden, so zitiert die Nachrichtenagentur Tass den von Russland eingesetzten Gouverneur Wolodymyr Saldo. Gefahr durch im Wasser treibende Sprengkörper befürchtet auch die ukrainische Seite. Auch Hilfsorganisationen warnen jetzt schon vor den vielen Minen, die in den vergangenen Monaten an den Flussufern versteckt wurden und nun mit den Wasser- und Schlammmassen flussabwärts ins Schwarze Meer oder in andere Zonen gelangen werden, wo eines Tages vielleicht wieder Fischer und Kinder auf sie stoßen. Das ukrainische Ministerium für Agrarpolitik warnt zudem vor Problemen bei der Bewässerung der Felder und der Ernte.

Der Uno-Nothilfekoordinator Martin Griffiths erklärte, dass der Dammbruch "schwerwiegende und weitreichende Folgen für Tausende von Menschen in der Südukraine auf beiden Seiten der Frontlinie haben wird, da sie ihre Häuser, Nahrungsmittel, sauberes Wasser und ihre Lebensgrundlage verlieren werden". Indes höre der Beschuss von der anderen Seite des Flusses, der in der Südukraine seit Monaten die Frontlinie markiert, auch nach dem Dammbruch nicht auf, teilten die ukrainischen Behörden mit.

Gegenseitige Schuldzuweisung

Russland und die Ukraine geben sich gegenseitig die Schuld an der Zerstörung des Staudamms. Beide Seiten sprechen von einem "Terroranschlag". Für den ukrainischen Generalstab ist das, was passiert ist, ein russisches Kriegsverbrechen. Ziel sei es demnach gewesen, den Vormarsch der ukrainischen Truppen in der Region zu verhindern. Konkret wirft Kiew den russischen Truppen vor, das Wasserkraftwerk und den Staudamm vermint und gesprengt zu haben. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigte an, Klage vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag einzureichen, und verglich die Sprengung des Staudamms mit dem Einsatz einer Massenvernichtungswaffe.

"Wir werden die Konsequenzen für diesen Dammbruch jahrzehntelang tragen", sagt Oleksii Honcharenko, Parlamentsabgeordneter der Partei Europäische Solidarität von Ex-Präsident Petro Poroschenko dem STANDARD. Der Politiker meldet sich telefonisch aus der Stadt Cherson, zu der in den ersten Stunden der Überflutung kaum Journalisten und Fotografen Zugang hatten. "Es riecht nach Öl", sagt Honcharenko, und erklärt, dass durch den Dammbruch mindestens 150 Tonnen Maschinenöl in den Fluss Dnjepr geflossen und ins Schwarze Meer gespült werde, an das nicht nur die Ukraine, sondern unter anderem auch die EU-Länder Rumänien und Bulgarien angrenzen.

Ein Mann klammert sich im überschwemmten Cherson an ein Haus.
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"Wir haben absolut nicht mit dem Bruch des Staudamms gerechnet, aber da wir es auf der anderen Seite mit russischen Soldaten zu tun haben, wissen wir, dass alles möglich ist", so Honcharenko. Er und die meisten westlichen Beobachter sehen Russland in der Verantwortung. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte auf Twitter, dass Russland für die in der Ukraine begangenen Kriegsverbrechen bezahlen müsse. Die estnische Premierministerin Kaja Kallas verurteilte Russland als "terroristischen Staat", der nun auch Wasser als Waffe einsetze.

Vorteil für Moskau

Moskau wiederum behauptet, die Anlage sei durch einen ukrainischen Angriff zerstört worden, und fordert eine internationale Untersuchung. Russische Militärblogger posten in sozialen Netzwerken Videos, die angeblich Granateinschläge in unmittelbarer Nähe des Staudamms zeigen. Überprüfen lässt sich dies nicht. Die Sprengung sei von ukrainischer Seite durchgeführt worden, so zitiert die Nachrichtenagentur Interfax den russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu. "Heute Nacht hat das Kiewer Regime ein weiteres terroristisches Verbrechen begangen", sagte er.

Auch Kreml-Sprecher Dmitri Peskow wies die Vorwürfe gegen Russland zurück. "Wir erklären offiziell, dass es sich eindeutig um eine vorsätzliche Sabotage der ukrainischen Seite handelt, die auf Befehl Kiews, des Kiewer Regimes, geplant und durchgeführt wurde." Russische Ermittler würden die Umstände der Zerstörung untersuchen, berichtet der Telegrammkanal des Untersuchungsausschusses der Russischen Föderation. "Infolge krimineller Handlungen der bewaffneten Formationen der Ukraine" sei es zu dieser Katastrophe gekommen.

Freiwillige retten eine ältere Dame über das Wasser.
APA/AFP/ALEKSEY FILIPPOV

Experten des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) in Washington gehen angesichts der Beweise und der Argumente davon aus, dass Russland den Staudamm absichtlich zerstört hat. Zugleich weisen sie darauf hin, dass eine endgültige Bewertung der Verantwortung derzeit nicht möglich sei. Ein ukrainischer Beamter spricht im STANDARD-Interview über schiefgelaufene Sprengungen Russlands. Der russische Gouverneur Saldo sieht nach der Zerstörung des Staudamms jedenfalls einen militärischen Vorteil für die eigene Armee. "Aus militärischer Sicht hat sich die operativ-taktische Situation zugunsten der Streitkräfte der Russischen Föderation entwickelt", so Saldo im russischen Staatsfernsehen.

Für das Atomkraftwerk Saporischschja, das sich nördlich des Kachowka-Staudamms befindet und das Größte in Europa ist, sieht die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) zurzeit keine "unmittelbare" Gefahr. Die Betriebssituation bleibe aber heikel, da sich das Kraftwerk ebenfalls an der Front befindet und von den Russen kontrolliert wird.

Hilfe für die Zivilbevölkerung

Laut NGOs und freiwilligen Helfern werden derzeit Boote und Trinkwasser benötigt. Viele der evakuierten Menschen, die bereits seit Kriegsbeginn unter der russischen Besatzung, Folter und Beschuss zu leiden hatten, wurden zunächst in die nahegelegene Stadt Mykolajiw gebracht und dann auf andere Orte verteilt. Auch der Kiewer Oberbürgermeister Klitschko hat angekündigt, mindestens 100 Kinder aus Cherson in Kiew aufzunehmen. Österreich, Deutschland und Litauen leisten über den EU-Zivilschutzmechanismus Hilfe. Diese drei Länder würden Wasserbehälter, Pumpen, Feldbetten und Notunterkünfte in die Ukraine schicken, teilte ein Sprecher der EU-Kommission mit.

Überschwemmungen im Kriegsgebiet.
APA/AFP/STRINGER

Unterdessen gehen die Kampfhandlungen in der Ukraine und in den russischen Grenzregionen weiter. Zwei Städte in der westlichen russischen Region Kursk waren am Mittwoch ohne Strom, ein Mann wurde verletzt, erklärte der Gouverneur der Region, Roman Starowoit. Dmitri Medwedew, der frühere Präsident Russlands, meint, dass die Ukraine ihre lang erwartete Gegenoffensive gestartet habe und dass Moskau mit einer eigenen Offensive reagieren sollte, sobald es die Kiewer Streitkräfte zurückgeschlagen habe. "Der Feind hat schon lange eine große Gegenoffensive versprochen. Und es scheint bereits etwas begonnen zu haben", sagte Medwedew, auf Telegram. "Wir müssen den Feind stoppen und dann eine Offensive starten."

Die in London lebende Olia Hercules, die einen Teil ihrer Familie nach Kriegsbeginn in andere Landesteile und in die EU evakuiert hat, erzählt, dass der Kontakt zu Bekannten auf der von Russland besetzten Flussseite derzeit unmöglich sei. Es sei unklar, ob die Menschen dort evakuiert werden. Eines aber steht für sie fest: "Die Russen nehmen uns unsere Lebensgrundlage weg", sagt Hercules. "Die Menschen in dieser Gegend fischen und betreiben Landwirtschaft. Der Damm war da, seitdem ich mich erinnern kann." (Jo Angerer aus Moskau, Daniela Prugger, 7.6.2023)