Ein Geheimtreffen, kurzer Handshake, Waffenstillstand und weitere Verhandlungen. Auf dem Papier ist ein etwaiger Friedensplan für die Ukraine schnell skizziert, in einer Simulation, einer Serious-Gaming-Session auch. Im echten Leben wirkt er auch 500 Tage nach Beginn der großflächigen Invasion durch Russland ungreifbar fern. Vielleicht gibt es ihn auch nie. Wahrscheinlich kommt es ohnehin ganz anders, als man selbst denkt. Wer kann schon die Zukunft vorhersehen?

Geschichte lässt nicht nur im Nachhinein umdeuten – wie es leider immer noch viel zu oft passiert –, sie lässt sich natürlich auch im Hier und Jetzt mitgestalten. Um dabei taktisch möglichst gewiefte, belastbare und reaktionsschnelle Verantwortungsträgerinnen auszubilden, wird an den Schalthebeln der Macht immer öfter auf spielerisches Lernen, auf Serious Gaming, gesetzt.

St. Gallen Strategy Days
Auch Real-Life-Soldaten nahmen an den St. Gallener Strategie-Tagen teil.
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Die Idee: rin Problem nicht nur durchdenken, sondern wirklich durchspielen, mit Gegenübern, die einem Kontra geben, mit Entscheidungsdruck trotz unvollständiger Informationen, mit Fake News und Intrigen, mit fatalen Fehleinschätzungen, deren Folgen nicht immer ausgemerzt werden können, mit einer scheinbaren Überforderung aufgrund der vielen Information. Alles garniert mit einem gewissen Level an Spaß, damit das Lernen leicht fällt und das Gelernte hängen bleibt – das ist Serious Gaming.

100 Teilnehmer, 100 Rollen

Gerade die Überforderung, die jedes der 30 Teams spürt, hält Philippe Narval für "eine der wichtigsten Lernerfahrungen" im Serious Gaming. Der Direktor des Square, wo an der Universität St. Gallen mit neuen, zukunftsgerichteten Formen des Lehrens und Lernens experimentiert wird, sieht darin ein Gegenmodell zur "linearen Erzählung, die oft gelehrt wird, aber weder die Realität noch die Geschichte widerspiegelt". Narval ist Ex-Generalsekretär des Forums Alpbach und auch Kolumnist für den STANDARD. Seit fast zwei Jahren ist er in St. Gallen.

Eine mögliche Geschichte Europas bis ins Frühjahr 2024, ein "Charaktertest", wurde Anfang Juni von rund 100, vorwiegend jüngeren Menschen aus der Wirtschaft, dem Militär, der Diplomatie und unterschiedlichsten Studiengängen an zwei intensiven Tagen bei den St. Gallen Strategy Days durchgespielt.

Die Teams sitzen auf drei Etagen verteilt in ihren Räumen, die EU-Staaten gemeinsam, die Türkei und die Schweiz separat, NGOs ebenso. Nato und USA in einem Raum, Russland in Nähe von Belarus und China. Kommuniziert wird via Messengerdienst Slack, bei Konferenzen oder zwischen Tür und Angel. Jede Stunde gibt es Updates durch die Spielleitung. Eine Stunde im Spiel ist ein Monat im "echten" Leben.

Szenario auf zehn Seiten

Auch ich war in der Rolle der Weltpresse dabei, nicht nur als STANDARD-Redakteur, sondern in allen möglichen Rollen – und versuchte NGOs, Tech-Unternehmen, Staaten und multinationale Organisationen für ihre Entscheidungen in Qualitätsmedien zur Rechenschaft zu ziehen oder Autokraten in Propagandamedien hochzujubeln. Auch für Fake News, reißerischen Boulevard, Investigativ-Recherchen und polemisierende Tweets war Zeit – alles was die Medienlandschaft des 21. Jahrhunderts eben zu bieten hat.

In Vorbereitung auf das Spiel werden manche das zehnseitige Szenario – das einen Lagebericht der Welt ein Monat in der Zukunft darstellt – aufmerksamer lesen als andere. Einige Spieler lassen sich treiben, andere studieren Reden, Tonfall und Körpersprache der ihnen zugeteilten Charaktere, analysieren Stärken und Schwächen und planen erste Strategien für Verhandlungen. Manche kleiden sich ihren Rollen entsprechend.

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In St. Gallen konnte man spielerisch das Gespür für geopolitische Dynamiken gewinnen.

Nicht alles ist möglich

Einige nehmen das Game "less serious" und verleihen ihrer vermeintlich unspektakulären Rolle als Schweizer Innenminister eigenmächtig mehr Pep, indem sie etwa die Produktion der Toblerone zurück in die Schweiz holen oder die Eingliederung Liechtensteins als 27. Schweizer Kanton verkünden.

Diederik Stolk und Tim Goudriaan, die Gamemaster aus den Niederlanden, sowie das restliche Kontrollteam sind dann aufgefordert, bestimmte Spielzüge als unrealistisch einzukassieren oder Quertreibern vorübergehend Twitter-Rechte zu entziehen. "Mein Job ist es, trotz verrückter Anfragen das Spiel in geregelten Bahnen zu halten", sagt Goudriaan. Studenten seien oft "weltoffener und kreativer" als etwa Militärs, sagt Stolk.

Und so wird ein sino-russischer Deal, 200.000 chinesische Truppen nach Russland zu verlagern – im Gegenzug für Schlachtschiffe für einem möglichen Taiwanfeldzug ­– als unrealistisch gestoppt. Auch ein direktes Putin-Selenskyj-Treffen, bei dem beide Staatsoberhäupter ausgeschaltet werden, angeleiert von ihren Stellvertretern, wird in einer ersten Version nicht erlaubt – zu früh, wenig durchdacht und zu viele, die es vorab stoppen könnten.

Um den Hauptspielstrang halbwegs auf Linie zu halten, wurden einige der entscheidenderen Charaktere vom Kontrollteam mit besonders fähigen Spielteilnehmerinnen und Spielteilnehmern besetzt, deren bisherige Lebensläufe auf hohe Belastbarkeit hinwiesen.

Neu gewonnene Macht

Denn eins wurde spätestens beim ersten einberufenen Nato-Gipfeltreffen klar: Die Spielerinnen scheuen keine Sekunde davor zurück, ihre neu gewonnene Macht auch auszuspielen. Und so werden Redeversuche abseits der festgelegten Tagesordnung brutal abgedreht und die Pressekonferenz verschoben, als unliebsame Fragen drohten. Dem unmittelbar folgenden Rüffel der westlichen Presse folgt das Angebot einer Exklusivgeschichte durch den Nato-Generalsekretär. Der Mann beherrscht das nicht immer korrekte Spiel mit Medien schon nach wenigen Stunden.

Dass auch der Fake-Putin Martin Frick – der aufgrund seines ehrenamtlichen Engagements für die Ukraine und seiner pro-ukrainischen Haltung einen "ordentlichen Gewissenskonflikt" hatte – sein Spiel richtig gut beherrscht, bekam der Fake-Selenskyj schmerzhaft zu spüren. Gegen Ende von Tag zwei, als im Keller Geheimverhandlungen unter UN-Vermittlung stattfanden, sei Selenskyj den Tränen nahe gewesen, berichtet er später. Tränen vor Wut, wie er dem STANDARD sagt, weil Frick partout nicht mit seiner Rolle zu brechen bereit war.

Alternativstrategien von Vorteil

Power-Moves ähnlich jenen, die der russische Präsident gerne bei bilateralen Treffen ausspielt; Hunde reinlassen, wissend dass Deutschlands Ex-Kanzlerin Angela Merkel Angst vor Hunden hat etwa. Beim Planspiel waren es eben Geplänkel über die Sitzordnung oder wen man als ebenbürtigen Gesprächspartner akzeptiert und wen nicht.

Der Ausgang des Spiels ist dabei weit weniger wichtig als die gemachten Erfahrungen: So wurde die Wichtigkeit einer wirklich guten Vorbereitung auf Meetings betont – dass man die eigenen Schwächen und jene des Gegners kennen muss. Auch Alternativ-Strategien, auf die man umzuschwenken bereit ist, um das Verhandlungsziel doch noch zu erreichen, solle man in petto haben. Aber auch die eigenen Emotionen müssen kontrolliert und News immer doppelt gecheckt werden. Dass Menschen in Machtpositionen oft mehr reden als zuhören, ist keine bahnbrechende Erkenntnis des Spiels, für viele aber ein Learning, das verinnerlicht wurde.

Krisen besser managen

Frick, der sich akribisch auf seine Rolle vorbereitete, sagte nach der Simulation dem STANDARD, dass es "beachtlich" sei, "wie schnell man auch die rollenspezifischen Eigenschaften übernehmen kann". Das entstehende "Überlegenheitsgefühl auch in der Simulation zu belassen", sei wichtig. Tatsächlich berichten die Spielleiter immer wieder von Late-Night-Diskussionen in Bars, wo vieles "nachbesprochen" wurde.

"Wenn künftige Leader ein derart breites Gespür für geopolitische Dynamiken bekommen und begreifen was es tatsächlich heißt zu verhandeln, wenn sie neues Handwerkszeug für diese volatile Zeit erlernen", dann erreiche das Planspiel sein Ziel, sagt Narval. Auch abseits des Militärs und der Geostrategie könne man sich dadurch "viel Ärger ersparen", ist er überzeugt. "Hätte man in der Corona-Pandemie gewisse Maßnahmen mal in einem Szenariospiel durchgespielt, wären bestimmt einige Dinge aufgefallen", so Narval. Es brauche dann aber freilich auch politisch Verantwortliche, die die Signale lesen können.

Ziviler Ungehorsam schwer simulierbar

Was beim Planspiel schwierig zu inszenieren ist, ist die Macht der Straße. Eine erneute Massenmobilisierung tat Putin nicht weh – wo im echten Leben doch mit schweren Protesten zu rechnen wäre –, und Spielvertreter der Letzten Generation stießen teils auf taube Ohren – Festkleben in der UN-Generalversammlung zum Trotz.

Die Macht der Zivilgesellschaft, der zivile Ungehorsam, der Wirbel auf der Straße oder im Netz seien in solch einem Setting nur schwer nachzubilden, sagt auch Narval – trotz Animierungsversuchen der Spielleitung. Letzten Endes fühlten sich einige Vertreter der Generation Klimaprotest nicht gehört – eine traurige Parallele zur Realität. Und womöglich Motivation für mehr zivilen Ungehorsam. (Fabian Sommavilla, 8.6.2023)